Gegner und Befürworter sind sich einig: Sie verstehen die Rechnung der Bahn nicht. Die Projektpartner stellen sich die Frage, ob der Bau des Tiefbahnhofs noch wirtschaftlich ist.

Stuttgart - Nach dem ersten Schreck über die Kostenexplosion beim umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 von 4,5 auf nunmehr bis zu 6,8 Milliarden Euro beginnt bei den Projektpartnern und -gegnern das Nachdenken darüber, ob der Bau des Tiefbahnhofs noch wirtschaftlich sein kann. Wie berichtet, hatte Technikvorstand Volker Kefer am Mittwoch erklärt, die Wirtschaftlichkeit des Projekts schmelze zwar ab, wenn die Bahn weitere 1,1 Milliarden Euro aus Eigenmitteln investiere, sie sei aber noch gegeben.

 

Noch vor drei Jahren klang das ganz anders: damals hatte Kefers Chef, der Bahn-Vorstandsvorsitzende Rüdiger Grube, einen Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro zur „Sollbruchstelle“ für das Projekt erklärt. Zudem hatte Grube betont, bis zu einer Summe von 4,7 Milliarden Euro sei Stuttgart 21 für die Bahn wirtschaftlich. Diese Diskrepanz ist auch für Projektbefürworter nur schwer nachvollziehbar.

Projekt könnte zum Verlustgeschäft werden

Bei der Bahn will sich dazu niemand äußern. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, Grube habe sich damals vielleicht etwas unpräzise ausgedrückt. Bis 4,7 Milliarden übersteige der Zinsgewinn den Aufwand der Bahn in ausreichendem Maß, nach der jüngsten Kostensteigerung nur noch in geringem Maß. Die Projektgegner wiederum erinnern daran, dass 2008 der Flughafen einen Zuschuss in Höhe von 112,2 Millionen Euro gewährt hat – mit der ausdrücklichen Begründung, die Wirtschaftlichkeit des Projekts zu sichern. Ein Bahn-Sprecher hatte damals erklärt, ohne die Finanzspritze wäre Stuttgart 21 nicht wirtschaftlich. Bei weiteren Kostensteigerungen während der offiziell auf zehn Jahre kalkulierten Bauzeit könnte das Projekt zum Verlustgeschäft für den Konzern werden. Dann müsste die Bahn, die sich zu hundert Prozent im Besitz der öffentlichen Hand befindet, Stuttgart 21 stoppen. Andernfalls könnten Vorstand und Aufsichtsrat in Haftung genommen werden.

Auf StZ-Anfrage wollte am Donnerstag auch kein Verantwortlicher in der Konzernzentrale erklären, woraus sich die angebliche Verpflichtung der Bahn zum Weiterbau ableitet. Sowohl Grube als auch Projektsprecher Wolfgang Dietrich hatten unter Hinweis auf die Finanzierungsvereinbarung zu S 21 gesagt, ein Ausstieg sei nicht vertragskonform. Zwar ist in dem Vertrag tatsächlich ein ordentliches Kündigungsrecht ausgeschlossen sowie eine Projektförderpflicht festgeschrieben, nicht bestritten wird darin aber das Recht auf außerordentliche Kündigung – etwa wegen Unwirtschaftlichkeit des Projekts.

Verwunderung über Kefers Zahlenwerk

Verwirrung herrscht bei den Projektpartnern über die von Kefer vorgelegten Berechnungen hinsichtlich der Kostensteigerung und Ausstiegskosten. „Zum Zahlenwerk können wir erst was sagen, wenn wir es verstanden haben. Wir haben hier einige Fragen“, lässt Stuttgarts OB Schuster über seinen Sprecher ausrichten. Und auch das Verkehrsministerium von Winfried Hermann hat die Zahlen zwar zur Kenntnis genommen, so der Sprecher Edgar Neumann, müsse diese aber erst aufarbeiten.

Verwunderung löst aus, dass Technikvorstand Kefer bei seinen Präsentationen ständig mit veränderten Zahlen agiert. Bei der Sitzung des Lenkungskreises im März hatte er den vorhandenen Risikopuffer noch mit 390 Millionen Euro angegeben. Im neuesten Zahlenwerk für den Aufsichtsrat wird der Posten – und das ist kein Zahlendreher – nun auf 930 Millionen Euro beziffert. Das verwundert, weil Kefer gleichzeitig einräumt, die Risikovorsorge sei bereits vollständig aufgebraucht.

Auch bei den Ausstiegskosten herrscht keine Klarheit

Den Betrag von 930 Millionen hat der Bahn-Vorstand auf den neu festgezurrten Finanzierungsrahmen von 5,6 Milliarden Euro übertragen. Dies soll offenbar den Eindruck erwecken, man sei für die restliche Bauzeit finanziell gut gerüstet. Die Bahn rechnet vor, im bisher geltenden Budget sei ein Puffer für gestiegene Baukosten von 436 Millionen sowie eine weitere Reserve von 324 Millionen für das Inflationsrisiko enthalten gewesen. Weitere Projektrisiken von 170 Millionen kämen hinzu.

Bei den Ausstiegskosten geht sowohl die Bahn als auch SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel von mehr als drei Milliarden Euro aus. Dem Aufsichtsrat wurden allerdings lediglich zwei Milliarden genannt. Begründung: die Schadenersatzforderungen der Projektpartner ließen sich nicht beziffern. 1,3 Milliarden Euro davon entfallen laut Bahn auf die Kosten für den Umbau des Gleisvorfelds. Diese hatte der Konzern vor Baubeginn auf lediglich 35 Millionen Euro taxiert. Ein großer Posten ist auch die  Rückabwicklung des Grundstücksgeschäfts mit der Stadt. Schmiedel geht davon aus, dass die Bahn den vollen Betrag von 459 Millionen Euro plus Zinsen bei einem Projektabbruch an die Stadt zurückzahlen müsste. Projektkritiker verweisen auf eine Notiz des Bahn-Vorstands an den Aufsichtsrat aus dem Jahr 2009. Darin steht, dass ein Stopp von Stuttgart 21 nur „zu entsprechenden Korrekturbuchungen“ führen würde. Die Rückabwicklung würde sich auf die Liquidität des Unternehmens auswirken, aber nicht auf das Vermögen.

Ausgaben liegen bisher wohl unter 500 Millionen Euro

Bei der S-21-Schlichtung Ende 2010 hatten drei Wirtschaftsprüfungsinstitute Ausstiegskosten zwischen 1,1 und 1,6 Milliarden Euro errechnet. Nach StZ-Informationen belaufen sich die tatsächlichen, bisher getätigen Ausgaben der Bahn für S 21 auf unter 500 Millionen Euro.