Die Band Kraftwerk zeigt bei ihrem Auftritt im Stuttgarter Beethovensaal auf altmodische Art, warum sie immer noch als Maßstab für zeitgenössische Popmusik gilt.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Der Morgen danach, am Frühstückstisch. „Wie ein Streichquartett, das sich für Haydn gepuderte Perücken aufsetzt“, resümiert die Gesprächspartnerin den Konzertabend. „Wie Robbie, Tobbie und das Fliewatüüt“, fügt sie über die antiquierte Computerblechstimme und die Optik hinzu, „einfachste Animationen, als wenn die 3-D-Brille erst gestern erfunden worden wäre“. Überhaupt: „Hast du die vielen Kinder gesehen, die von ihren Eltern mitgeschleppt wurden und schläfrige Augen bekamen, weil jedes Smartphone bessere Projektionen hinbekommt als das, was über den Monitor flimmerte?“ Und dazu „die Menschen, die ihr Telefon wie eine Nabelschnur betrachten, die ein Konzerterlebnis nur als ein Ergebnis sehen, das sie gerade im Selfiespiegel fabrizieren und nicht als etwas, was sie befruchtet?“

 

Mit allem hat sie leider recht. Im Prinzip jedenfalls – hätte dort am ersten Abend von zwei Stuttgarter Kraftwerk-Konzerten, die seit Vorverkaufsbeginn ausgebucht waren, nicht der Nostalgiker gestanden, dem der Retrocharme gefällt, der ein halbes Jahrhundert musikalische Lebensleistung anerkennt und eine infantile Freude empfindet, mit seiner 3-D-Pappbrille auf der Nase.

Wie so oft im Leben liegt die Wahrheit halt irgendwo in der Mitte. Klar, die Musik ist wahnsinnig retrospektiv, 2003 erschien das letzte Kraftwerk-Album, 1986 sein Vorgänger – macht zwei Alben in den letzten knapp drei Dekaden. Vom letzten, „Tour de France“, spielt das Quartett zwei Stücke, ansonsten ist auch das Lied „Autobahn“ vom 1974 erschienenen, quasi ersten Kraftwerk-Album dabei (die drei Alben davor werden von der Band selbst nicht als echte Kraftwerk-Alben wahrgenommen). Ganz schön alte Kost also, in Szene gesetzt von den erwähnten 3-D-Projektionen.

Symbiose zwischen Musik und Inszenierung

Die bestimmen einerseits natürlich das Fluidum dieses Konzerts, und sie vermitteln eben auch eine fantastische Symbiose zwischen Musik und Inszenierung. Umgekehrt sind sie trotz einiger wirklich verblüffender Effekte auch ziemlich altbacken und längst von der aus dem Kino bekannten virtuellen Realität überholt.

Man muss sich also auf dieses audiovisuelle Spektakel einlassen wollen. Man muss akzeptieren, dass man gar nicht weiß, ob hier überhaupt live musiziert wird, wenn vier Musiker in schneidigen Ganzkörperanzügen lediglich an Konsolen herumstehen, hier und da ein Knöpfchen drücken sowie hin und wieder allenfalls mal im Rhythmus nicken. Man muss hinnehmen, dass die vier Herren sich nicht vorstellen und überhaupt kein einziges Wort im Konzertverlauf reden, bis zur stummen Verbeugung, mit der sie nach der zweiten Zugabe ihren Hut nehmen.

Doch diese zwei Zugaben werden vom sehr reifen Publikum nachdrücklich eingefordert. Spätestens sie zeigen, traditionell mit dem Stück „Musique non stop“ endend, warum diese Band noch immer zu den wegweisenden Vertretern deutscher Popmusik zählt. Der herrlich transparente Sound im Beethovensaal tönt am Sonntagabend brillant aus den Lautsprechern, die Lieder sind sowieso erstklassig. „Computerwelt“, „Mensch-Maschine“, „Das Model“, „Radio-Aktivität“ – das sind allesamt Klassiker, die, so alt sie auch immer sein mögen, nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben. Es ist großartiger Elektropop, dargebracht von Pionieren dieser Musik, denen nicht umsonst weltweit ein nachhaltiger Ruf vorauseilt (und das können nur wenige deutsche Bands von sich behaupten) .

Zeitlosigkeit als Gütesiegel

Die Illumination auf der Bühne stützt sie, trotz der gestrigen Anmutung der Show mit den ins Publikum fliegenden Ufos und ähnlichen nostalgischen Spielereien. Umgekehrt würde es wahrscheinlich sogar irritieren, wenn die Projektionen in State-of-the-Art-Technik umgesetzt werden würden. Schließlich wiederum könnte diese unnachahmliche Musik auch wirken, wenn sie ohne jeglichen Schnickschnack dargeboten würde.

Es ist vermutlich, nein: ganz bestimmt sogar, die Zeitlosigkeit dieser Songs, die ihnen das Gütesiegel verleiht. Man kann und muss vielleicht darüber hinwegsehen, dass sie in einem völlig unzeitgemäßen Gewand präsentiert wird. Dass sie live – wie auch immer man diesen Begriff deuten darf – vorgestellt wird, ist ohnehin schon ein rares Vergnügen. Jahrelang hat diese Band allenfalls mal eine Handvoll Konzerte rund um den Globus gegeben, nun war sie nach ihrem Auftritt zum ZKM-Jubiläum in Karlsruhe schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit auf hiesigen Bühnen zu sehen. Und womöglich kommt ja sogar bald mal wieder ein neues Album auf den Markt. Die Zeit wäre dann doch in jedem Sinne reif.