Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei war die Eskalation am Sonntag in Stuttgart vorhersehbar. Die Bilanz: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei war die Eskalation am Sonntag in Stuttgart vorhersehbar. „Wer dazu aufruft, eine Demo zu sabotieren, muss sich nicht wundern, wenn das einige als Aufforderung zu Gewalt interpretieren“, sagt Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

 

In mehreren deutschen Städten hatte die kaum bekannte Gruppe AYTK (Europäisches Neue-Türken-Komitee) sogenannte Friedensmärsche organisiert. Viele Kurden fühlten sich durch den Aufruf provoziert. Ein Bündnis anderer Migrantenorganisationen, darunter Kurden und Armenier, wirft der AYTK vor, nationalistisch zu sein und der türkischen islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahezustehen. Daher wurde dazu aufgerufen, sich dem „Friedensmarsch“ auch in Stuttgart entgegenzustellen. Als sich die Demos näherten, flogen Pflastersteine und Böller, Mülltonnen wurden umgeworfen. Die Bilanz: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen. Auch in anderen deutschen Städten wurde demonstriert, etwa in Köln und Frankfurt. Dort gab es aber offenbar keine größeren Zwischenfälle.

Schon in Vergangenheit gab es Auseinandersetzungen

Sofuoglu sagt: „Anfangs war alles friedlich, aber dann wurde die Stimmung immer aufgeheizter.“ Schließlich verlor die Polizei, die vorgewarnt war und sich vorbereitet hatte, die Kontrolle über die Lage. Auch Turan Tekin, Sprecher der Kurdischen Gemeinde Stuttgart, kritisiert den Aufruf zur Gegendemonstration: „Ich habe geahnt, dass das aus dem Ruder laufen kann.“ Ihn ärgert, dass die Randale den Kurden in die Schuhe geschoben werde. Seine Beobachtung: „Zwischen den friedlichen Demonstranten liefen auch Leute aus der autonomen Szene und linke Krawallmacher.“

Der seit Langem blutig ausgetragene Konflikt mit den Kurden in der Türkei wird immer wieder auch in Deutschland spürbar. Schon in der Vergangenheit kam es in   Stuttgart am Rande von Demonstrationen zu kleineren Ausschreitungen.

Der Konflikt zwischen Türken und Kurden geht bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Damals brach das Osmanische Reich zusammen, doch anstatt einen eigenen Staat zu bekommen, wurde das Gebiet der Kurden zwischen der Türkei, Syrien, Irak, Iran und der Sowjetunion aufgeteilt. Aber viele Kurden gaben den Wunsch nach Souveränität nie auf – und brachten ihn als „Gastarbeiter“ auch mit in die Bundesrepublik. Inzwischen leben hier laut der Kurdischen Gemeinde Deutschland rund eine Million Menschen kurdischer Abstammung. Die meisten stammen aus der Türkei. So werden die Konflikte auch nach Deutschland importiert, wo fast zwei Millionen Türken leben. Hinzu kommen Türkischstämmige, die deutsche Staatsangehörige wurden.

Verbände kämpfen gegen Radikalisierung

Die türkischen und kurdischen Verbände in Deutschland kämpfen seit Jahren gegen die Radikalisierung vor allem ihrer jüngeren Mitglieder. Aus diesem Grund lässt Ali Ertan Toprak auch keine Zweifel aufkommen. „Was da in Stuttgart passiert ist, muss verurteilt und von der Polizei verfolgt werden“, sagt der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands. Besonders bitter für ihn sei, dass gerade die Kurden, die in ihrer Heimat unter den Repressionen des Staates leiden müssten, dort ihre Meinung nicht frei äußern könnten. Aus diesem Grund sollten sie das Demonstrationsrecht – auch für Andersdenkende – besonders hoch schätzen, klagt Toprak. Allerdings sei die Frustration aufseiten der jungen Kurden enorm. „Wegen der Flüchtlingskrise sieht die EU weg, wenn die türkische Regierung brutal gegen die Kurden in der Türkei vorgeht“, sagt er.

Auch Sofuoglu ist überzeugt, dass die Polarisierung in Deutschland begonnen hat, als Erdogan Präsident wurde. Ende 2015 hatten die Türkische Gemeinde und die Kurdische Gemeinde in Deutschland Türken und Kurden in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgerufen, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen: „Wir brauchen Stimmen der Vernunft.“ Diesen Satz sagt Sofuoglu auch mit Blick auf die bevorstehende Fußball-EM. Er befürchtet, dass es im Sommer deswegen „noch einige Probleme“ geben könnte.