Viele Patienten, die eine Krebserkrankung überstanden haben, leiden Jahre später unter den Spätfolgen der Therapie. Eine lückenlose Dokumentation der Behandlung hilft dem Patienten für sein weiteres Leben.

Stuttgart - Eine Krebstherapie kann nicht harmlos sein. Chemotherapeutika sind Gifte, die Zellen töten sollen. Ähnliches gilt für die Bestrahlung. Lange Zeit waren Nebenwirkungen Nebensache im Kampf gegen den Krebs. Doch seitdem immer bessere Therapien die Überlebenschancen steigen lassen, fallen vor allem die sehr langfristigen Folgen der Therapie immer mehr ins Gewicht. Ein Patient, der mit Anfang 20 eine Leukämie überstanden hat, erlebt mit Mitte 40, dass sein Herz schwächer wird. Bei einem Hodgkin-Patienten büßt die Schilddrüse nach der Bestrahlung am Hals ganz allmählich ihre Funktionstüchtigkeit ein. Oft sind diese Spätfolgen gut behandelbar, allerdings nur wenn sie auch erkannt werden. Ein Patient, der mit zehn Jahren einen Hirntumor überstanden hat, kann vielleicht keine Kinder zeugen.

 

„Es kommt darauf an, dass man an den richtigen Stellen mit den richtigen Methoden nachschaut“, sagt Stefan Bielack, Professor für Kinderonkologie am Klinikum Stuttgart. Er empfängt im Olgahospital die Radfahrer der sogenannten Regenbogenfahrt der Deutschen Kinderkrebsstiftung. Bei dieser einwöchigen Radtour machen junge Erwachsene darauf aufmerksam, dass auch nach einer Krebserkrankung sportliche Höchstleistungen möglich sind. Schon in den frühen 1980er Jahren stiegen die Heilungschancen bei Krebs im Kinder- und Jugendalter deutlich an. Spätfolgen sind unter Kinderonkologen also schon lange ein Thema, auch weil ihre Patienten nach einem Therapieerfolg noch viele Lebensjahre vor sich haben. Auch die Dokumentation der Therapie ist in der Kinderonkologie oft besonders genau. „Wir wissen, was die Patienten bekommen haben, deshalb sind wir relativ gut darin, mögliche Probleme auch zu entdecken“, sagt Bielack. Hilfreich ist auch, dass die Mediziner auf die Daten des Kinderkrebsregisters Mainz zugreifen können, wo Therapie und Verläufe aller Kinder- und Jugendkrebspatienten gespeichert und ausgewertet werden.

Wenn ein Problem eingekreist ist, reicht Bielack die Patienten oft an Erwachsenenmediziner weiter. „Wenn es darum geht, zum Beispiel ein Schilddrüsenproblem bei einem 30-Jährigen zu behandeln, gibt es andere, die das besser können als wir. Aber man muss eben erst einmal draufkommen, dass man da überhaupt nachschauen muss.“ Das „draufkommen“ ist der Punkt, an dem es oft hakt, vor allem, weil zwischen Therapie und den ersten Spätfolgen oft sehr viel Zeit vergeht. Der Kontakt zum ehemals behandelnden Onkologen ist oft schon verloren gegangen. Hausarzt und Patient kommen oft nicht gleich auf den Gedanken, einen Zusammenhang zur Krebstherapie herzustellen. Viele Beschwerden bleiben so ungeklärt und unbehandelt.

„Spätfolgen sind nach wie vor kein Thema, das in der breiten Öffentlichkeit oder in Fachkreisen im Vordergrund steht“, sagt Peter Borchmann, Onkologe an der Uniklinik Köln. Er leitet die Arbeitsgruppe Survivorship der Deutschen Hodgkin-Lymphom Studiengruppe (GHSG). „Es gibt eben nach wie vor sehr viele Krebsarten, an denen die Patienten schnell sterben. Natürlich wird da die größere Not gesehen als bei einer Erkrankung wie dem Hodgkin-Lymphom, wo man sagen kann: die Patienten werden ja fast alle geheilt, die sollen sich mal jetzt nicht so haben.“

Die GHSG erfasst als eine der wenigen in Deutschland überhaupt systematisch Daten zur gesundheitlichen Situation von Überlebenden von Krebs im Erwachsenenalter. Ihre Mitarbeiter verfolgen die Lebenswege von insgesamt 15 000 ehemaligen Patienten. Die Zahlen zeichnen ein düsteres Bild: 15 Prozent der Patienten leiden zehn bis 20 Jahre nach Therapieende an einer Herzschwäche. Jeder zweite Patient ist nach der Behandlung unfruchtbar. Viele Frauen kommen zu früh in die Menopause, abhängig von der Therapieform und dem Alter bei Therapie erkranken bis zu 20 Prozent an Brustkrebs. 15 bis 25 Prozent klagen über schwere Fatigue. Jeder fünfte Patient berichtet von kognitiven Einschränkungen.

Nicht jede Therapie ist so harsch, wie die zur Behandlung von Hodgkin-Lymphomen, doch die Zahlen machen deutlich, dass Spätfolgen massiv sein können. Und die Zahl der potentiell Betroffenen steigt: Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen leben, deren Krebsdiagnose fünf oder mehr Jahre zurück liegt, bei zwei Millionen Menschen sogar zehn oder mehr Jahre. Rund 30 000 Menschen in Deutschland haben Krebs im Kindes- und Jugendalter überstanden.

„Wir schaffen es, unseren Patienten ein gutes Versorgungsangebot zu machen“, sagt Bielack. „Aber wir müssen daran arbeiten, Strukturen zu schaffen, so dass wir das auf Dauer leisten können.“ Mit diesem Anliegen ist er am Klinikum Stuttgart nicht allein. „Ich bin der Meinung, dass jeder Krebsbehandler die Verantwortung hat, die Folgen der Therapie, die er gemacht hat, zu beobachten und eine entsprechende Nachsorge zu betreiben“, sagt Gerald Illerhaus. Der Onkologe leitet seit November 2012 das Stuttgart Cancer Center. Man müsste, sagt er, auch nach Ende der Therapie die Patienten so begleiten, dass auch die Spätfolgen rechtzeitig erkannt und behandelt werden.

In der Realität bleibt der Anspruch, den Illerhaus formuliert, aber oft unerfüllt. Viel hängt in der Erwachsenenmedizin von der Eigeninitiative der Patienten ab. Illerhaus: „Das Ideal wäre, dass die Patienten selbst Buch führen. Wenn dann ein Patient zehn Jahre nach der Therapie zum Hausarzt kommt und sagt: ‚Ich hab Atemnot beim Laufen, und das könnte an dieser Therapie mit diesem bestimmten Medikament liegen, weil das das Herz schädigen kann.‘ – dann könnte das seine Versorgung deutlich verbessern.“ Für die Kinderonkologie soll eine europäische Initiative (ENCCA) ein neues Werkzeug entwickeln, einen sogenannten Survivor-Passport, der alle wichtigen Therapieinformationen enthalten soll. Bielack: „Das ist eine Form der strukturierten Informationsweiterleitung aus der Kinderonkologie heraus in das spätere Leben, so dass die Nachbetreuenden wissen, worauf es beim einzelnen Patienten ankommt.“ Ein Konzept, das als Vorbild auch für die Erwachsenenonkologie taugt. Bei aller Sorge um Spätfolgen, sagt Bielack, erlebe er immer wieder, dass man den Patienten auch deutlich machen müsse, wann und worum sie sich gerade keine Sorgen machen müssen: „Auch das gehört zu einer guten Versorgung dazu.“