Der Ministerpräsident bekennt sich zu einer Grenzüberschreitung in Sachen EU-Beitritt der aufstrebenden Macht am Schnittpunkt von Ost und West. Aber er steht dazu. Das Land besitze eine strategische Bedeutung – auch für Deutschland

Istanbul - Winfried Kretschmann ist verschnupft. Auf seiner einwöchigen Reise nach Ankara und Istanbul hat sich der Ministerpräsident einen Infekt eingefangen, der ihm bei dem engmaschig gestrickten Programm zu schaffen macht. Da ein türkischer Minister, dort eine Wirtschaftsgröße, dazwischen mit verschwollenen Augen der Regierungschef aus Stuttgart – und immerzu drängt schon der nächste Termin.

 

Aber auch die Seele hustet. Kretschmanns Bekenntnis zur Türkei als Teil Europas und sein entschlossenes Plädoyer für einen EU-Beitritt des Landes – die Erfüllung aller demokratischer Standards vorausgesetzt – fand nicht die erhoffte Resonanz. Die türkischen Medien sind mit Drängenderem beschäftigt als der EU. Mit Syrien zum Beispiel. Kretschmanns Entourage indes beteuert standhaft, in den Schaltzentralen der türkischen Politik werde Kretschmanns Rede, die er an Universität Ankara gehalten hatte, aufmerksam studiert. Staatspräsident Abdullah Gül, dem der Ministerpräsident heute seine Aufwartung macht, wird wenigstens davon gehört haben.

Außenpolitik ist keine Spielwiese des deutschen Föderalismus

Dabei ist Kretschmann bewusst, dass sein Bekenntnis zum türkischen EU-Beitritt „eine gewisse Grenzüberschreitung“ bedeutet, da doch Kanzlerin Angela Merkel der aufstrebenden Regionalmacht am Bosporus nicht mehr als eine „privilegierte Partnerschaft“ anbietet. Und Außenpolitik ist immer noch Sache der Bundesregierung, keine Spielwiese des deutschen Föderalismus. Kritik weist der Katholik Kretschmann jedoch mit der gut lutherischen Haltung des „Hier stehe ich und kann nicht anders“ zurück. Die Sache sei wichtig genug, um der Türkei zu zeigen, dass es in Deutschland auch andere Positionen gebe als die der Bundesregierung. „Das Thema ist von vitaler Bedeutung“, sagt er – und verweist auf die „große türkischstämmige Community“ in Deutschland. Allein in Baden-Württemberg zählt sie eine halbe Million Menschen, die eine enge Verbindung zur Türkei herstellten.

Ob Kretschmann dabei auch auf Wählerstimmen schielt, bleibt Spekulation. „Das war kein Motiv“, beteuert er. Bisher konnte sich der Grüne dem Verdacht unkeuscher Machtpolitik erfolgreich entziehen – nicht zuletzt daraus schöpft er einen beträchtlichen Teil seiner Popularität. Erwin Teufel, der frühere Ministerpräsident, mit dem Kretschmann gern verglichen wird, galt auch als bodenständig und wertgebunden, war bei alldem aber ein Großmeister der Machtpolitik. Für jeden Schachzug fand er mühelos eine höhere Rechtfertigung, die alle anderen Absichten und Motive als nebensächlich erscheinen ließ. Kretschmann ist nicht frei davon, aber doch noch ganz Novize.

Ein anregender Besuch bei Patriarch Bartholomäus

Willkommene Abwechslung von allen irdischen Händeln und Kümmernissen findet der Ministerpräsident bei Seiner Allheiligkeit Bartholomäus, dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel. Ein freundlicher Mann, der in der Nachfolge des Apostels Andreas ein großes, aber doch prekäres Erbe verwaltet. In der Welt der orthodoxen Christen erhebt er den Anspruch, Erster unter Gleichen zu sein, was in der Praxis nicht unangefochten bleibt, wo doch die russisch-orthodoxe Kirche groß und zahlreich an Gläubigen ist, Bartholomäus aber eine bescheidene Herde anleitet. Nur ein verschwindend geringer Anteil der 75 Millionen Türken bekennt sich zum Christentum. Wenn Recep Erdogan, der türkische Ministerpräsident, Seiner Allheiligkeit die Grenzen aufzeigen will, nennt er ihn „den Patriarchen von Fener“. In jenem Stadtteil Istanbuls befindet sich die Residenz des Patriarchen.

Eine Stunde unterreden sich das geistliche Oberhaupt und der Ministerpräsident, die sich schon von einer früheren Begegnung her kennen. Der Patriarch spricht ziemlich gut deutsch, und er interessiert sich sehr für Ökologie. Grüner Patriarch trifft auf grünen Ministerpräsidenten. Einer der vor der Tür wartenden Mitarbeiter Kretschmanns hofft auf „die heilende Wirkung des Segens“ des Patriarchen für den kranken Chef. Als Kretschmann und Bartholomäus in den Audienzsaal treten, wirkt der Ministerpräsident immer noch angriffen, aber auch angeregt.

Die Minister vertreten den grippebedingt ausfallenden MP

Glaubensfragen wirken zuverlässig belebend auf ihn. Vor allem über die Religionsfreiheit habe man gesprochen, berichtet er. Und dass es ein „wichtiges Signal“ wäre, wenn der türkische Staat das 1971 geschlossene Priesterseminar von Halki wieder eröffnen würde. Seit mehr als 40 Jahren ist es der orthodoxen Kirche in der Türkei nicht mehr möglich, Geistliche auszubilden.

Die Lücken, die Kretschmann grippebedingt hinterlässt, füllen seine Minister mit Behagen aus. Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) startet zusammen mit dem neuen EnBW-Chef Frank Mastiaux und dem türkischen Energieminister Taner Yildiz mit einem symbolischen Knopfdruck den Bau eines Windparks nördlich von Istanbul. Insgesamt 22 Windanlagen sollen bis zum Jahr 2014 erstellt werden. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt der EnBW und des türkischen Mischkonzerns Borusan. Kaum ein Land, sieht man von China ab, ist zuletzt so schnell gewachsen wie die Türkei. Bis 2023, dem hundertsten Gründungsjahr der Republik, will das Land zu den ersten zehn Wirtschaftsnationen der Welt gehören. Derzeit steht es auf Rang 16.

Bessere Jobaussichten sind oft das Motiv der Rückkehrer

Bilkay Öney (SPD), die Integrationsministerin, trifft sich mit Rückkehrern. Junge Leute, durchgängig Akademiker, die Deutschland den Rücken kehrten. Fast alle geben an, der besseren Jobaussichten wegen in die Heimat der Eltern gegangen zu sein.

Aber letztlich verbirgt sich hinter den meisten ihrer Erzählungen die Erfahrung von Ablehnung und Diskriminierung. „Ich bin mehr deutsch als viele Deutsche“, sagt eine Rückkehrerin, aber in Deutschland glaubt der letzte Depp auf der Straße, er dürfe sich besser fühlen als ich.“

Ali Günes kam im Alter von zwei Jahren nach Dortmund, heute lebt der 44-Jährige in Sakarya im östlichen Hinterland von Istanbul. Auch er bezeichnet sich als „Deutschländer“: „Ich habe diese Mentalität bis in die kleinste Zelle.“ Dennoch sagt er, es sei richtig gewesen, in die Türkei zurückzukehren, so wie es die Eltern geplant, aber bis zu ihrem Tod nicht mehr geschafft hatten. Heute hat Günes ein Unternehmen mit 60 Mitarbeitern, das Garagentore herstellt. Die Zulieferteile bezieht er aus Deutschland. Bilkay Öney, die Integrationsministerin, sagt, dass es doch ein Problem sei, wenn so viele gut ausgebildete Menschen Deutschland verlassen.