Auf seiner Israeltour begegnet Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Toten und den Überlebenden. In der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem legt er einen Kranz nieder, in Tel Aviv spricht er mit Holocaust-Opfern.

Jerusalem - Gerlinde Kretschmann rückt ihrem Mann die Kippa zurecht, befestigt sie schließlich mit einer Haarspange, auf dass sie nicht zur Unzeit vom Hinterkopf rutsche. Dann tauchen die beiden in das Halbdunkel der Gedächtnishalle von Yad Vashem ein. Die Namen der 22 größten Konzentrationslager sind in den Boden gemeißelt. Uriel Kashi, des Ehepaar Kretschmanns Cicerone durch diesen Irrgarten des Schreckens, spricht einleitende Worte – in Englisch, obwohl Kashi im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf aufgewachsen ist und dort Abitur gemacht hat. Aber Deutsch ist nicht erlaubt an diesem Ort auf dem Mount Herzl nahe Jerusalem. Alle Sprachen dieser Welt sind für die Zeremonie zugelassen, nur das Deutsche nicht. Winfried Kretschmann tritt hervor, lässt die Flamme der Erinnerung mit einem Handgriff auflodern und legt zusammen mit Benedikt Haller, dem Geschäftsträger der deutschen Botschaft, einen Kranz für die Opfer des Holocaust nieder. „Der Präsident des Bundesrats“, steht auf der in Schwarz-Rot-Gold gehaltenen Schleife. Als solcher ist Kretschmann für sechs Tage nach Israel gereist, als Repräsentant der 16 deutschen Länder.

 

Die Gedächtnisfeier ist nach wenigen Minuten fast schon wieder beendet. Rabbi Schneur Trebnik aus Ulm spricht noch ein Gedenkgebet. Die Namen der Todeslager sind aus dem Hebräischen herauszuhören. Bleibt das Besucherbuch. Kretschmann trägt ein: „Das furchtbare Unrecht der Schoah und deren Opfer dürfen nie vergessen werden. Sie bleiben uns Mahnung für Toleranz, Respekt und Menschenrechte.“ Der Stuttgarter Regierungschef wirkt noch blasser als gewöhnlich. „Man ist wirklich mitgenommen“, sagt er. „Das geht schon unter die Haut.“ Der Schrecken, den das Museum schildert, ist ja an sich schon schlimm. Besucher aus der ganzen Welt strömen durch eine fremde und bizarre, eine tödliche Welt. Dass Ungewöhnliche für den deutschen Besucher aber liegt darin, dass er in einem fernen Land im Museum auf seine Heimat blickt. Deutsch sind Plakate und Dokumente, deutsch sind viele Namen, deutsch sind die Mörder.

Oettinger und die Geschichtsvergessenheit

Vor knapp fünf Jahren war Günther Oettinger in der Halle der Erinnerung gestanden, um im Widerschein der Gedenkflamme für die Opfer des Holocaust den Widerschein der Geschichte zu suchen. „Die Schoah verpflichtet uns, verpflichtet mich, in Gegenwart und Zukunft“, trug an jenem späten Oktobertag 2008 der damalige Ministerpräsident in das Besucherbuch ein. Offizieller Anlass für Oettingers Reise nach Israel war der sechzigste Jahrestag der Staatsgründung Israels gewesen, aber sie folgte auch einem innenpolitischen Kalkül. Nach der missratenen Freiburger Trauerrede auf Hans Filbinger ging es ihm darum, den Ruch der Geschichtsklitterung abzustreifen und den Vorwurf der Geschichtsvergessenheit hinter sich zu lassen. Yad Vashem diente ihm als eine Art Rehabilitationsklinik.

Von solchen Problemen ist Kretschmann frei, auch wenn sich seine Partei in der Vergangenheit immer wieder mit dem Vorhalt auseinandersetzen musste, die Kritik, die im Urteil über die Politik der Palästinenser fehle, im Übermaß über Israel auszugießen. Er wird an diesem Tag noch bei Schimon Peres vorsprechen, dem bald 90-jährigen israelischen Staatspräsidenten und Friedensnobelpreisträger.

Im März 2008 hatte Kanzlerin Angela Merkel in der Knesset, dem israelischen Parlament, gesagt, die historische Verantwortung für die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson. Ein Satz, der ihr in seiner Absolutheit und Bedingungslosigkeit Kritik und Unverständnis bis hin zu Bundespräsident Joachim Gauck eintrug, der sich bei seinem Staatsbesuch in Israel erstaunlich deutlich davon distanzierte. Das Wort könne Deutschland „enorme Schwierigkeiten“ bereiten. Aber hat Deutschland einst nicht auch erst seine jüdischen Staatsbürger und dann den Rest der Welt in – zynisch formuliert – „enorme Schwierigkeiten“ gebracht?

Kretschmann wählt seine Worte vorsichtig

In seinem Gespräch mit Staatspräsident Peres knüpft Kretschmann an Merkels Wort an, bleibt aber in der Wortwahl vorsichtiger. „Unser großes Anliegen ist, dass Israel in Sicherheit leben kann. Wir möchten alles tun, um Israel zu unterstützen, dass es den Frieden gewinnt.“

In Yad Vashem trifft Kretschmann die Toten. Tags zuvor war er in Tel Aviv den Überlebenden begegnet, den letzten Zeugen der Schoah. Es gibt sie noch, nicht mehr viele, aber es gibt sie noch. Menschen wie Miriam Gillis-Carlebach, 1922 in Hamburg geboren, Tochter eines Oberrabbiners, eine kleine, gebeugte Frau mit sanfter Stimme und einer ungemein höflichen, gepflegten Sprache. Oder Pesach (Paul) Andermann, Jahrgang 1929. Ein großer Mann, der sich straff hält und mit Stolz in der Stimme berichtet, wie er für Israel gekämpft habe: „Ich habe alles mitgemacht“, sagt er. „Sechs Kriege.“ Und der jetzt nach Syrien blickt. Hunderttausend Tote seien schon zu beklagen, mehr als in all den Kämpfen der Israelis gegen die Araber. Das zu erwähnen ist ihm wichtig. „Ich kann nur frieren in so einem Frühling.“

Zwi Helmut Steinitz hat Auschwitz überlebt

Oder Sara Atzmon, geborene Gottdiener. Sie kam 1933 in Ungarn auf die Welt, die für sie das Konzentrationslager Bergen-Belsen bereithielt. Sie hat in der Malerei einen Weg gefunden, um sich mit den schrecklichen Erlebnissen ihrer Kindheit auseinanderzusetzen und sie zu verarbeiten. Oder Zwi Helmut Steinitz. 86 Jahre zählt er – trotz Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen. Die Namen sind kostbar, denn sie gehören Menschen, die überlebt haben.

Es ist eine fast absurde Szene. Winfried Kretschmann und mit ihm Integrationsministerin Bilkay Öney sowie Staatsministerin Silke Krebs sitzen im 14. Stock des Carlton-Hotels in Tel Aviv in einem kleinen Konferenzzimmer diesen Überlebenden der Schoah gegenüber. Der Blick aus dem Fenster weitet sich bis nach Jaffa, dazwischen tobt das pralle Strandleben: Es zeigt Menschen, die sich in der Mittelmeersonne genüsslich bräunen, schwimmen, Eis essen, gemeinsam Beach-Volleyball spielen, joggen. Menschen entspannen sich in Cafés, in Restaurants, in Pools vor den Luxushotels oder hoch oben auf den Hoteldächern. Und dann sitzt da der betagte, lebhafte Herr Steinitz an einem nüchternen Konferenztisch – mit der Nummer 174 251 auf dem linken Unterarm. Er ist immer noch da, der Herr Steinitz, in diesem Land Israel, in dem sich viele Menschen, einheimische wie auswärtige, Gott besonders nahe fühlen. Herr Steinitz aber kennt den Ort, der in dieser Welt Gott am weitesten entfernt liegt: Auschwitz, wie es die Nazis erschufen.

Der richtige Instinkt in der richtigen Sekunde

Mit 15 Jahren stand er mit Eltern und Bruder in einer Schlange vor dem Krakauer Ghetto. Weil er „mit dem richtigen Instinkt in der richtigen Sekunde“ die Reihe wechselte, blieb er am Leben, während die Eltern in den Tod gingen. Ein SS-Mann ließ ihn gewähren. Steinitz vermutet, weil er ihn deutsch ansprach und nicht polnisch oder jiddisch wie die anderen in der Reihe. Andererseits: sein Vater war Studienrat, Veteran des Ersten Weltkriegs, durch und durch assimiliert. Es half nichts. Der Vater wurde ermordet, der Sohn geriet zunächst ins Lager Plaszów, das mitsamt seinem Kommandanten Amon Göth mit Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ weltweit zu Bekanntheit kam. Später folgten weitere Lager bis hin zum Todesmarsch nach Sachsenhausen.

Kretschmann sagt, es sei ihm „wichtig, dass wir die Erinnerung an den Schrecken der Schoah wachhalten“. Dass besonders die Jugend davon erfahre. Damit spricht er Herrn Steinitz und den anderen aus dem Herzen. Sie sind allesamt als Zeitzeugen aktiv, besuchen auch Deutschland hin und wieder – wie Miriam Gilles-Carlebach, die an einer Universität ein kleines, nach ihrem Vater benanntes Institut leitet. Aber es hat 45 Jahren gedauert, bis sie sich eine Reise nach Deutschland zutraute. Beim ersten Mal, erzählt sie, schaute sie sich auf den Straßen Hamburgs ständig nach möglichen Verstecken um. Aber sie hielt durch. „Es ist mein Ziel, mit den jungen Deutschen eine Verbindung zu kriegen, damit wir Verständnis füreinander gewinnen. Wir müssen viel investieren in Toleranz.“

Augenzeugenberichte, wie es wirklich war in Deutschland

Zwi Helmut Steinitz erklärt den Schulklassen regelmäßig, er komme nicht, um Schuldgefühle zu wecken, sondern um zu berichten, was war. Sie alle teilen den Eindruck, dass die Schoah in Deutschland zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird, die Schulkinder zu wenig darüber erfahren. Aber dass Kretschmann, als Bundesratspräsident nach der protokollarischen Kleiderordnung immerhin die Nummer vier der Republik, ihnen gut zwei Stunden lang zuhört, das finden sie schon gut. Dafür seien sie dankbar, sagen sie. Es klingt nicht nur nach Höflichkeitsfloskel.

Und was die Geschichte des Staates Israel angeht, auch darin sind sie sich einig, ist die Kritik in Deutschland zu einseitig. Es ist doch ihr Land, das sie „mit Spirit und festem Willen“ (Pesach Andermann) aufbauten und das ihnen Heimstatt gab. In Israel, sagt der Holocaust-Überlebende Steinitz, laufe nun wirklich nicht alles, wie er es sich wünsche. Er redet von „Mitteleuropa“, dem er sich verbunden fühlt. Aber was Israel angehe, da vertraue er ganz und gar auf das Wort David Ben-Gurions, des ersten Premierministers: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“