Ministerpräsident Winfried Kretschmann staunt bei seiner Japanreise über die Probleme der Grünen dort: Die nach dem Unglück in Fukushima kritischere Haltung gegenüber der Atomenergie schlägt sich in der Politik kaum nieder.

Tokio - An der Wand des edlen Konferenzzimmers im Tokioter Hotel Ritz Carlton prangt hinter den fünf Vertretern der japanischen Grünen Partei das deutsche Emblem „Atomkraft – Nein danke“. „Wir haben 30 Jahre gebraucht, ich hoffe, der Start geht bei Ihnen schneller“, sagte der deutsche Bundesratspräsident Winfried Kretschmann bei einem Treffen mit seinen japanischen Parteikollegen in Tokio am Donnerstag. Bei seinem fünftägigen Japanbesuch stellte er die deutsche Energiewende vor und warb für erneuerbare Energien. „Bei uns wird es 300 Jahre dauern“, rutschte es Masaya Koriyama, dem Beauftragten für internationale Angelegenheiten, nach dem Treffen nur halb im Scherz heraus. Seit der Parteigründung im Juli 2012 konnten die „Greens Japan“ oder „midori no to“ ihre Mitgliederzahl von 1000 kaum steigern. „Es war alles schwieriger als erwartet“, sagte auch die Grünen-Sprecherin Nao Suguro, eine von zehn Kandidaten für die Oberhauswahl im Juli.

 

Vielleicht war es der herbe Rückschlag für sämtliche Parteien mit einem Anti-AKW-Programm bei den Wahlen im Dezember, der ihren Kampfgeist erneut geweckt hatte. Seit zehn Jahren versuchen Suguro und ihre Mitstreiter Japans Politik zu begrünen – bislang zaghaft und wenig erfolgreich. Suguro selbst sitzt im Parlament des Tokioter Stadtteils Suginami. 70 Vertreter der Grünen seien in ähnlichen Positionen tätig. Bei den Grünen ist sie eine von vier Repräsentanten. Im August 2012 sagte die damals 33-Jährige, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis die japanischen Grünen so erfolgreich würden wie ihre deutschen Kollegen. In der Tat sind sie davon, dass ein Vertreter ihrer Partei wie Winfried Kretschmann Ministerpräsident eines Bundeslandes (Baden-Württemberg) beziehungsweise Gouverneur einer Präfektur würde, noch weit entfernt. Über Jahrzehnte hätten ihre Landsleute die Herrschaft der Liberaldemokraten (LDP) fast als Naturgesetz betrachtet, erklärte Suguro. Viele glaubten: „Wir können nichts tun, als die LDP darum zu bitten.“

Der Sinneswandel hat sich politisch nicht manifestiert

Dabei gab es vorigen Sommer eine kurze Zeit lang neue Hoffnung. In der breiten Bevölkerung wuchs der Widerstand gegen die Atompolitik der damals von den Demokraten geführten Regierung, weil sie zwei der 50 ruhenden Reaktoren wieder anfuhr. Suguro hoffte, dass sich der Sinneswandel auch politisch manifestieren würde. Zwei Drittel der Japaner sind inzwischen für den sofortigen oder baldigen Ausstieg. Doch wie so oft in Japan wurde die atomkraftfreundliche LDP in die Regierung gewählt.

Kretschmann zeigte sich davon überrascht. Schließlich hatte der Atomunfall in Japan am 11. März 2011 die Wahlen in Deutschland zwei Wochen später stark beeinflusst, auch zu Gunsten seiner Partei. Angesichts seiner Verwunderung kicherten mehrere Grüne, aber nicht, weil sie ihn verlachten. Es ist die Kernfrage, die die atomkraftfeindliche Opposition seit ihrem Wahldebakel im Dezember umtreibt. „Es liegt an der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich“, sagte Suguro. Wirtschaftsthemen waren den meisten wichtiger als ihre Angst vor dem nächsten GAU. Mehr als 35 Prozent der Bevölkerung seien „atypisch beschäftigt“ und verdienten wenig. Zehn Millionen der 125 Millionen Japaner kämen gerade auf ein Jahreseinkommen von unter zwei Millionen Yen (15 000 Euro), erklärte sie.

Immer weniger Menschen gehen wählen

Premierminister Shinzo Abe und seiner LDP wurde die größte wirtschaftliche Kompetenz zugesprochen, auch aufgrund ihrer engen Verbindungen zur Industrie. Immer wieder suggerieren die LDP und ihr zugewandte Medien, dass Japans energiehungrige Industrie ohne Atomstrom international nicht wettbewerbsfähig sei. Die kommende Oberhauswahl gilt als Test, ob diese Argumente bei den Wählern auf Dauer ziehen. Die größte Schwierigkeit der Grünen und anderer Oppositionsparteien sei, so Suguro, dass die Wähler das Vertrauen in ihre Volksvertreter verloren hätten und immer weniger Bürger wählen gingen.

Die japanischen Grünen wollen ihren Anhängern beweisen, dass sich die über Spenden mühsam gesammelten 100 Millionen Yen (750 000 Euro), die das Parteiengesetz für den Antritt bei einer nationalen Wahl vorschreibt, gelohnt haben. Suguro erklärte gegenüber Kretschmann: „Unser Ziel ist mindestens ein Oberhaussitz.“ Die Grünen seien die einzige Partei ohne finanzkräftige Unterstützer in Institutionen oder Firmen, sondern „normale Bürger“. Kretschmann versprach seine Unterstützung, unabhängig vom Wahlergebnis. Um eine breitere Wählerschaft anzusprechen, regte er an, grüne Themen „wirtschaftspolitisch zu imprägnieren“, politische Teilnahme zu thematisieren und Frauen stärker zu fördern. Leider sei vielen Wählerinnen gar nicht bewusst, dass ihre Stimmen von den etablierten Parteien nicht gehört würden, sagte Suguro.

Viele japanische Mütter haben keine Zeit für politische Arbeit

Der Bundestagspräsident erkundigte sich, ob junge Frauen und Mütter weiter aktiv seien, nachdem sie die Katastrophe von Fukushima ähnlich wie Tschernobyl 1986 politisiert habe. Suguro bejahte, schränkte jedoch ein, dass manche Mütter, die aus Sorge vor den Folgen des Reaktorunglücks weggezogen seien und nicht aus der Evakuierungszone stammten, also keine finanzielle Unterstützung vom Staat erhielten, vollauf damit beschäftigt seien, die Familie über Wasser zu halten. Für politische Aktionen bleibe keine Zeit. Wieder andere versuchten, die Probleme auszublenden. Unter den zehn Kandidaten der Grünen für die Oberhauswahl sind sieben Frauen, davon eine aus unmittelbarer Nähe des Unglücksmeilers.

Suguros Parteikollege Akira Miabe ergänzte zum Thema Energiepolitik, dass japanische Parteien und Wähler zwar wüssten, dass ein langfristiger Ausbau erneuerbarer Energien wichtig sei, aber wichtige Ziele würden zu Gunsten kurzfristiger Lösungen gerne auf die lange Bank geschoben. Deshalb verschulde sich Japan trotz immens hoher Staatsverschuldung – sie betrug 2012 etwa 240 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – gerade wieder neu, sagte Miabe mit einem Seitenhieb auf die Abe-Regierung und ihre „Abenomics“-Wirtschaftspolitik. Sie beruht unter anderem auf höheren Ausgaben der öffentlichen Hand. Kretschmanns Delegation reiste nach seiner Rede zur Energiewende an der Universität Kyoto weiter nach Seoul.