Wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann war auch der Schriftsteller Jochen Kelter einst vom Radikalenerlass betroffen. Anders als bei dem Grünen ist seine Empörung nicht verflogen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Im Landesarchiv lagern der Schriftsteller und der Ministerpräsident nah beieinander, unter dem Buchstaben „K“. Erst kommt Kelter, Jochen, wohnh. Tägerwilen, wenig später dann Kretschmann, Winfried, Echterdingen. Die Akten der beiden – heute 68 und 66 Jahre alt – dokumentieren zwei von etwa 2000 Fällen überwiegend aus den siebziger Jahren, in denen der Staat gemäß dem Radikalenerlass die Verfassungstreue angehender Staatsdiener überprüfte. Zweifel oder gar „erhebliche Zweifel“ daran bestanden bei beiden.

 

Beim angehenden Lehrer Kretschmann waren es, wie berichtet, zwei Kandidaturen für die Kommunistische Hochschulgruppe, die ihn ins Visier des Verfassungsschutzes brachten. Der wissenschaftlichen Hilfskraft Kelter wurde vorgeworfen, an der Universität Konstanz Mitglied und Funktionär des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gewesen zu sein und sich in Friedrichshafen im „Radikaldemokratischen Club“ engagiert zu haben, einer Vorläuferorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Zudem habe er in Konstanz der Gruppe „Hochschulpolitik“ angehört, die mit der Kommunistischen Hochschulgruppe in Heidelberg sympathisierte. So steht es in der gerade vier Seiten umfassenden Akte, die die Stuttgarter Zeitung mit Kelters Erlaubnis einsehen durfte – ebenso wie die gut zehnmal so dicke Akte Kretschmanns.

Karriere als Hochschullehrer verbaut

Beide konnten die Zweifel an ihrer Verfassungstreue damals doch noch ausräumen, allerdings mit unterschiedlichen Folgen. Kretschmann wurde, wie gewünscht, erst Referendar und dann Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik, 1980 zog er für die von ihm im Südwesten mitbegründeten Grünen in den Landtag ein. Der Literatur- und Sprachwissenschaftler Kelter wäre gerne Hochschullehrer geworden, resignierte aber nach zweijährigem Kampf und siedelte dauerhaft in die Schweiz über. Dort und in Paris arbeitete er als Schriftsteller, brachte es zu internationalen Ämtern – etwa als Präsident der Föderation Europäischer Schriftstellerverbände oder der Schweizer Verwertungsgesellschaft „Pro Litteris“ – und mehreren Auszeichnungen, darunter 1984 dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart.

Während Kretschmann das ihm einst drohende Berufsverbot bald abhakte und es heute sogar als berechtigt verteidigt, ließ es Kelter nie los. In seine Prosa, heißt es in einem Literaturlexikon, habe es „als eine Traumatisierung der 68er-Generation generell und schonungslos autobiografisch Einlass“ gefunden. Textprobe: „Der staatliche Apparat sah seine Stunde gekommen, glaubte die Gespenster zu erkennen und holte zum Gegenschlag aus. Der Apparat wusste nun endlich, was er wollte: die Macht . . .“

Antwort von Kretschmann nach anderthalb Jahren

Wie Kretschmann war Kelter einst Mitglied eines Allgemeinen Studentenausschusses (Asta). In Kontakt kamen sie indes nicht damals, sondern erst etwa vierzig Jahre später. Im Sommer 2011 verfasste der Schriftsteller einen offenen Brief an den frisch gewählten Ministerpräsidenten. Der von diesem angekündigte „neue Stil“ der Transparenz, Offenheit und Bürgernähe ermutige ihn, sein Anliegen zum Radikalenerlass vorzutragen. Er verlange von dem Grünen natürlich keine Entschuldigung „für die Borniertheit einer Vorgängerregierung“, so Kelter, wohl aber eine kritische Rückschau. Sich und der Öffentlichkeit müsse die erste nicht-schwarze Regierung seit 58 Jahren Rechenschaft ablegen „über die politische Bespitzelung, die paranoide Hexenjagd und die völlig inakzeptable Entfernung von politisch Andersdenkenden aus dem Staatsdienst in jenen Jahren“. Nur wenn die Vorgänge von damals aufgearbeitet würden, die „Zukunftsaussichten zerstört und Existenzen verbogen“ hätten, lasse sich Vergleichbares fortan verhindern. Die damalige Repression sei mit ursächlich gewesen für die „Entfremdung der Intellektuellen vom Staat“, habe mit dazu beigetragen, „Menschen in den Untergrund zu treiben“. Nicht nur „eine Handvoll Terroristen“, auch die Politiker seien mit schuld gewesen am „deutschen Herbst“.

Es wurde zunächst eine recht einseitige Korrespondenz. Mehrmals mahnte Kelter eine Antwort Kretschmanns an („Die Angelegenheit mag für Sie verjährt sein, für mich ist sie es keineswegs“), mehrmals wurde er vom Staatsministerium vertröstet: Man habe sich „mit Nachdruck der Thematik des Radikalenerlasses angenommen“ und auch die zuständigen Fachressorts eingebunden, aber da der Regierungschef persönlich mit der Sache befasst sei, verzögere sich die Antwort noch etwas. Nach fast anderthalb Jahren, kurz vor Weihnachten 2012, kam sie schließlich – und war für Kelter eine Enttäuschung. Er hatte zwar an einen Schicksalsgefährten geschrieben, aber dessen – einst durchaus vorhandene – Empörung über das Geschehene war offenkundig längst verflogen.

Früher war auch der Regierungschef empört

Die ominösen „Erkenntnisse“ etwa, die der Staat gegen mutmaßliche Verfassungsfeinde ins Feld führte, hatten beide einst gleichermaßen empört. „Äußerstes Befremden“ hatte Kretschmann 1975 bekundet über die undurchsichtige und unkontrollierbare Art und Weise, wie sich das Innenministerium diese Informationen beschaffte. Genau das thematisierte Kelter auch in seinem Brief: Mal habe es „im Telefon geknackt“, mal seien „ein paar unpassende Gestalten in Versammlungen“ gesessen, mal habe man „den Pressereferenten des Rektorats . . .mit einem Tonband hinter einer Säule erwischt“. Auch der Passus zu der Stellungnahme, mit der Kelter schließlich die Zweifel an seiner Verfassungstreue ausräumte, betraf gemeinsame Erfahrungen. „Ich schrieb unter juristisch prüfendem Auge einen äußerst merkwürdigen Brief, eine Camouflage, halb Zugeständnis, halb Beharrung“, schilderte Kelter. „Bei seinem Anblick schauderte es meinen akademischen Lehrer.“ Kretschmanns entsprechende Stellungnahme – ein Schlüsseldokument – ist in den Akten zwar erwähnt, findet sich aber nicht darin. Quälte er sich damit genauso wie Kelter, oder ging es ihm leichter von der Hand?

Die späte Antwort des Ministerpräsidenten vermittelte dem Schriftsteller den Eindruck, dieser habe seinen Brief gar nicht richtig gelesen. Dass Beamte jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten müssten, aktiv und nicht nur pro forma, „war und ist korrekt“, schrieb ihm Kretschmann. Von daher sei es „nachvollziehbar“, dass der Staat die Verfassungstreue künftiger Beamter überprüfe. Nur: bei Kelter ging es nie um eine Verbeamtung. „Angreifbar“ nannte Kretschmann immerhin die Praxis, dass „allein die Mitgliedschaft in einer als verfassungsfeindlich angesehen Organisation“ Zweifel an der Verfassungstreue begründete. Nur: Jene Organisationen, zu denen ihm Zugehörigkeit angekreidet worden sei, hätten weder Mitglieder gekannt noch Funktionäre, hatte Kelter ihm geschrieben; im juristischen Sinn seien sie überhaupt nicht existent gewesen.

Überhaupt habe sich die Exekutive – Innen- und Kultusministerium – damals judikative Macht angemaßt, die ihr nicht zustand. Halbwegs versöhnlich stimmte ihn nur der Satz, der Staat dürfe „keine Gesinnungsschnüffelei betreiben“, und eine Ankündigung zum Schluss: Man wolle den 40. Jahrestag des Radikalenerlasses – 2012 – zum Anlass nehmen, um die einstige Praxis wissenschaftlich aufzuarbeiten. Ein geeignetes „Format“ werde noch gesucht, auch die „Erfahrungen unmittelbar Betroffener“ sollten einbezogen werden.

Die Aufarbeitung lässt auf sich warten

Zwei Jahre danach hat sich noch niemand bei Kelter gemeldet, auch bei niemand anderem; die versprochene Aufarbeitung steht noch aus. Er halte sie weiterhin für „wünschenswert“, bekräftigte der Ministerpräsident anlässlich des Öffentlichwerdens seiner persönlichen Akte, aber das könne nicht die Regierung, sondern nur die Wissenschaft leisten. Am Fall Kretschmann findet Jochen Kelter eines besonders interessant: „Dass man damals in den öffentlichen Dienst gelangen konnte, wenn man genügend Unterstützung und Solidarität hinter sich hatte“. Beides, bilanziert er, „war bei mir nicht der Fall“.