Die panische Flucht der Jesiden vor den Dschihadisten hat die Menschen über die ganze Region verstreut. Nun machen sich viele abermals auf den Weg, um im kurdischen Autonomiegebiet Hilfe und Sicherheit zu finden. Wieder riskieren sie ihr Leben.

Erbil - Die meisten Entkommenen sind barfuß oder haben sich Tücher um die nackten Füße gewickelt. Einige humpeln über die Grenze, ihre Lippen sind aufgesprungen, Dreck verklebt ihre Haare, Kinder weinen und schreien an der Hand ihrer Eltern. Wer das Glück hatte, eine Wasserflasche zu fangen, hält diese ganz fest. Denn nicht immer kam die Hilfe der US-Amerikaner an. Die Plastikflaschen, welche aus der Luft abgeworfen wurden, sind oft an den scharfen Steinen zerschellt – bei Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius, ohne Schatten. „Neben mir ist das Wasser ausgelaufen, ich konnte nichts machen“, schildert Hozam Saleh.

 

Schweiß perlt auf seiner Stirn, er bewegt sich erschöpft vorwärts in einem nicht enden wollenden Tross von Flüchtlingen in Fishkhabour an der syrisch-irakischen Grenze. Die Vertriebenen laufen aus dem Bürgerkriegsland Syrien zurück in ihre Heimat, um von dort in den sichereren Nordirak zu gelangen, wo sie im autonomen Kurdengebiet auf Schutz hoffen. Wer Glück hat, erwischt ein Fahrzeug. Die meisten aber laufen lange Strecken zu Fuß. „Manche mussten 25 Stunden gehen“, erzählt Hero Anwar von der irakischen Hilfsorganisation Reach am Telefon.

Hunderttausende sind auf der Flucht

In den vergangenen Tagen mussten viele Flüchtlinge Blätter und Baumrinde essen, um zu überleben. Väter und Mütter mussten mit zuschauen, wie ihre Söhne und Töchter verdursteten, verhungerten oder vor Schwäche tot umkippten. „Meine drei Kinder sind auf der Flucht gestorben“, sagt Saleh, der es mit seiner Frau aus dem Sindschar-Gebirge herausgeschafft hat. „Ihre Leichen mussten wir zurücklassen.“ Er zeigt keinerlei Regungen, während er von dieser Tragödie spricht.

Kleine Babys haben nur eine geringe Überlebenschance. Foto: Anadolu

Die meisten der Flüchtlinge hier gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an, die bis vor Kurzem noch rund um den Höhenzug lebten. Sie sind auf der Flucht vor den Dschihadisten des Islamischen Staates (IS). Die Eroberungswelle der Terroristen begann Anfang Juni. Sie überrannten weite Teile des Irak, hissten ihre schwarzen Flaggen, und ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi rief einen Gottesstaat, ein Kalifat, aus. Seitdem sind Hunderttausende auf der Flucht.

Über die Lautsprecher der Moscheen hatten die Fundamentalisten den Christen und Jesiden ein Ultimatum gestellt, entweder zum Islam überzutreten, Steuern zu zahlen oder das Land zu verlassen. Wer sich weigere, werde getötet, so erzählen es die Flüchtlinge. Die Menschen flohen auf den Sindschar-Höhenzug, nur mit ihren Kleidern am Leib und den wenigen Habseligkeiten, die sie in der Panik einpacken konnten. Zwar warfen irakische Soldaten und die US-Luftwaffe Wasser, Essenspakete und Medikamente ab, aber es habe nicht ausgereicht für die vielen Flüchtlinge.

Überlebende erzählen grausige Geschichten

Die Überlebenden in Fishkhabour erzählen grausige Geschichten. Wie IS-Kämpfer ihre Häuser plünderten und sie jagten, wahllos Menschen enthaupteten und die Köpfe aufgespießt im Ort ausstellten, Frauen vergewaltigten, Kinder verschleppten. Eine Frau, Duaad Tulan, sagt, die Männer in ihrem Viertel seien bei einer Massenerschießung ermordet worden. „Wir haben ihre Hilferufe gehört“, sagt sie, läuft weiter und lässt die Fliegen über ihr Gesicht krabbeln. Eine andere, Hediye Anwar, berichtet, sie wisse nicht, wo ihr Mann und ihre Schwiegereltern seien. „Wir haben uns in dieser ganzen Panik einfach verloren. Da bin ich alleine geflohen“, sagt sie apathisch und mit schwacher Stimme. Dann fällt sie in Ohnmacht, ein Helfer des kurdischen Halbmondes rennt zu ihr hin.

Viele alte Menschen müssen getragen werden. Foto: Anadolu

Erst die Flüchtlingstragödie hat die Religionsgemeinschaft der Jesiden ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. In Europa wissen die wenigsten Genaueres über sie. Karl-May-Leser kennen den Namen vielleicht aus seinem Buch „Durchs wilde Kurdistan“, weil sie als Teufelsanbeter verfolgt werden. Jahrhundertealte Vorwürfe, welche dieser Minderheit bis heute gemacht und weswegen sie von radikalen Muslimen unterdrückt und ermordet werden. Keine andere religiöse Minderheit wurde nach der Invasion der Amerikaner 2003 im Irak so sehr gejagt wie die Jesiden. Aber die jetzige Gewalt der IS gegen die Jesiden übertrifft alle bisher da gewesene Brutalität.

„Die schlachten uns doch ab“

Wie viele Menschen noch in den Sindschar-Bergen eingeschlossen sind, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Den Vereinten Nationen zufolge wurde ein Teil der Flüchtlinge gerettet, der Großteil konnte selbst entkommen. Etwa 50 000 von ihnen sollen die Grenze zu Syrien erreicht haben, andere seien in der kurdischen Autonomieregion. Die UN spricht von nur noch rund 1000 Flüchtlingen in dem öden Gebirge. Das US-Verteidigunsministerium berichtet von bis zu 5000 Menschen. Hinter jeder Nummer steckt eine Geschichte aus dem Bürgerkrieg und von der Flucht, die ein Bild des Elends ergeben. Vor allem die Verletzlichsten – Alte, Behinderte und Kinder – sind in Lebensgefahr. Jeden Tag überqueren Tausende von Menschen die Grenze an diesem höllischen, chaotischen Ort. Sie hoffen auf Hilfe – egal von wem.

Überall in der Region sind Flüchtlinge unterwegs. Foto: Anadolu

Rund 600 000 Iraker haben seit Beginn des IS-Vormarsches Anfang Juni in den kurdischen Autonomiegebieten Zuflucht gefunden. Schon vorher waren etwa 200 000 Syrer vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat nach Kurdistan-Irak geflohen. Auf rund fünf Millionen Einwohner in den kurdischen Gebieten kommen also insgesamt etwa 800 000 Vertriebene. Doch die Zahl der Flüchtlinge ist für die Hilfsorganisationen nicht das größte Problem. Ihnen macht vor allem zu schaffen, dass die Menschen über die ganze Region verstreut sind. Sie hätten Zuflucht in Schulen, Gotteshäusern und leeren oder halbfertigen Gebäuden gefunden, erzählt Ned Colt vom UNHCR. Viele Flüchtlinge wechselten häufig ihren Aufenthaltsort.

Die US-Regierung teilte mit, durch den Abwurf von Lebensmitteln sei die Situation für die Jesiden in der Sindschar-Region nicht mehr so dramatisch. Eine Einschätzung, welche die Entkommenen nicht nachvollziehen können. „Die schlachten uns doch ab“, sagt Sami Omar, die drei Tage auf dem Berg herumgeirrt ist. Ein IS-Kämpfer, so sagt sie, habe ihr ein Messer an den Hals gehalten und gedroht. „Wenn du nicht zum Islam konvertierst, dann übergeben wir deinen Kindern bald deinen Kopf.“

Ein Teil des Landes ist vom Zerfall bedroht

Der IS ist nicht nur im Irak aktiv, sondern hat seinen Vormarsch in Syrien begonnen, wo seit dreieinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. In Syrien hat sich der IS in den Waffenlagern der Armee und anderer Rebellen bedient. Die Radikalisierung und Ausweitung galt als absehbar. Auch wenn es zynisch klingen mag, das Ausmaß der Notlage der Menschen in Syrien ist weitaus größer als im Irak. Warum aber handeln jetzt die EU-Staaten und auch die USA im Irak, aber nicht im Nachbarstaat?

„Im Irak haben wir eine einfache Einteilung in Schwarz und Weiß – auf der einen Seite stehen die bedrohten Minderheiten und die kurdischen Kämpfer und auf der anderen Seite die Terroristen“, sagt Paul Freiherr von Maltzahn, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zudem hätten westliche Regierungen befürchtet, dass man mit Aktionen gegen den IS in Syrien indirekt das Regime des „Bösewichts“ Präsident Baschar al-Assad gestützt hätte, auf dessen Untergang viele Politiker zu früh gewettet hätten, sagt von Maltzahn, der früher als Diplomat an der deutschen Botschaft in Syrien arbeitete und auch ein Jahr lang die Vertretung im Irak leitete.

Wer Glück hat, ergattert einen Wagen. Foto: Anadolu

Hinzu komme, dass eine Unterstützung der Kurden im Irak völkerrechtlich betrachtet leichter zu gewähren sei, da die irakische Regierung den Westen um Hilfe gebeten habe. In Syrien dagegen verbittet sich Assad jede „ausländische Einmischung“. „Außerdem gibt es im Irak keinen Konflikt mit Russland und Iran, die sich im Syrien-Konflikt hinter das Assad-Regime gestellt haben“, sagt von Maltzahn, der sich sicher ist, dass der IS-Terror bald wieder nach Syrien überschwappen wird. „Denn die Dschihadisten haben nicht mit dem massiven Widerstand der Kurden gerechnet.“

Aber die kurdischen Kämpfer, die Peschmerga, können lediglich ihr Autonomiegebiet im Norden verteidigen, während der Rest des Landes vom Zerfall bedroht ist. Ob die Kurden nicht doch eines Tages von den Islamisten überrollt werden, ist nicht klar. Kurdenpräsident Massud Barsani hat daher mehrfach die Lieferung moderner Waffen sowie Ausbilder vom Westen gefordert, um die Terrormiliz besiegen zu können. Aber die Peschmerga bekommen immer mehr internationale Unterstützung. Auch die Bundesregierung ist nach langem Zögern bereit, Waffen in den Nordirak zu liefern. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will prüfen lassen, welche Waffen Deutschland zur Verfügung stellen könnte und was von den Kurden benötigt wird. Am kommenden Mittwoch soll endgültig entschieden werden.

Für die Betroffenen eine quälend lange Zeit. Sie wissen nicht, ob sie den Marsch nach Kurdistan überleben werden. Denn fast täglich gibt es neue Horrormeldungen aus der Region. Erst vor wenigen Tagen haben die Dschihadisten in einem Dorf im Nordirak mehr als 80 Jesiden getötet, weil diese nicht zum Islam übertreten wollten. Trotzdem bewegt sich der nicht enden wollende Flüchtlingstreck in Fishkhabour Richtung Nordirak. Hozam Saleh, der seine drei Kinder verloren hat, Duaad Tulan, die eine Massenexekution miterleben musste, Hediye Anwar, die ganz alleine geflohen ist, Sami Omar, der Islamisten mit einer Enthauptung drohten – sie alle wissen nicht, wohin sie sonst gehen sollen.