Deutsche Soldaten werden fast täglich beschossen. Sie wissen, dass sie den Feind härter attackieren müssten – aber oft lässt man ihn nicht.

Chahar Darah - Der Staub schwebt wie ein brauner Schleier in der Luft, setzt sich in den Haaren fest, verklebt die Augen, knirscht zwischen den Zähnen. Er färbt die Menschen grau - selbst hier auf dem Feldbett im Schatten einer Bauruine, wo Alexander Krallmeister (alle Namen geändert) sein Sturmgewehr putzt. Er nagt an seiner Unterlippe, während er den Schaft vom Sand befreit. Nichts darf blockieren, das Gewehr ist seine Lebensversicherung. Auf seine Mütze und Uniform hat er seine Blutgruppe genäht: 0 positiv. Um Krallmeister herum sitzen seine Kameraden, drücken Munition in Magazine, packen Verbandszeug in ihre Rucksäcke. Jemand summt die Melodie von "Amazing Grace". Die Stimmung im Lager ist angespannt, nervöse Vorfreude spiegelt sich in den Gesichtern. Sie werden kämpfen, Taliban jagen, manche von ihnen sagen: endlich.

 

Morgen wird es Verluste geben, hat Hauptmann Wolle sie gewarnt, der Kompaniechef, Verwundete mit Sicherheit, vielleicht Gefallene. Ein Soldat reißt einen dreckigen Witz, seine Kameraden klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel. Ein paar Schritte weiter sitzen zwei Soldaten auf Benzinkanistern, halten sich an den Händen und versprechen sich gegenseitig ihre Laptops, falls einer von ihnen fällt.

Der Auftrag lautet, das Dorf Nahr-e Sufi einzunehmen, nur ein paar Kilometer vom Lager entfernt - eine sogenannte No-go-Area, Indianerland, Talibanhochburg. Zwei deutsche Kompanien, eine amerikanische und eine afghanische Kompanie, dazu ein paar Belgier, insgesamt fünfhundert Mann, sollen das Dorf erobern und die Taliban vertreiben, festnehmen und zur Not töten, um Anschläge zu verhindern. Man nennt die Operation "Weißer Adler". Die Amerikaner hatten einige Wochen zuvor schon versucht, das Dorf einzunehmen, mussten sich aber mit Verlusten zurückziehen. "Na, das waren auch keine Fallschirmjäger", sagt ein Feldwebel. Ein Kamerad teilt Pudding aus mit Zitronengeschmack.

Sie hausen in einer kleinen Festung in Chahar Darah, der gefährlichsten Ecke im Einsatzgebiet der Deutschen

Die Deutschen haben sich am Rand der Wüste festgesetzt. Sie hausen in einer kleinen Festung aus Stacheldraht, Bunkern und Sandsäcken in Chahar Darah, der gefährlichsten Ecke im Einsatzgebiet der Deutschen, elf Kilometer vom Feldlager Kundus entfernt. Der Sicherheit wegen trägt niemand hier Namensschilder. In den Dörfern und Gehöften um das Lager tummeln sich Taliban und andere Aufständische sowie Drogen- und Waffenschmuggler. Alle haben etwas dagegen, dass ihnen deutsche Soldaten in die Quere kommen. Der Feind ist zu mächtig geworden in den vergangenen Jahren. Die alten Regeln haben sich der Realität angepasst. Es reicht nicht mehr, den Krieg zu verwalten, sich beschießen zu lassen und sich anschließend im sicheren Lager zu verkriechen. Sie wollen den Feind stellen.

Alexander Krallmeister, Oberstabsgefreiter der zweiten Kompanie des Fallschirmjägerbataillons 313, ignoriert die Scherze seiner Kameraden. Er weiß, was Tod und Verlust bedeuten. Einen Monat vor dem Marschbefehl nach Afghanistan starb seine Verlobte und Jugendliebe bei einem Autounfall. Der Einsatz in Afghanistan und der Rückhalt seiner Kameraden hielten ihn im Gleichgewicht, sagt er. Der nachdenkliche 23-Jährige hat sich vor vier Jahren zum Dienst verpflichtet, und eine Spezialausbildung im Nahkampf absolviert. Es ist sein erster Auslandseinsatz. Nach dem Ende seiner Dienstzeit möchte er noch mal vier Jahre verlängern und danach "beim Bund Verwaltungsfachangestellter lernen."

Krallmeister und seine Kameraden haben Befehl, die Region sicherer zu machen. Sie sollen den Feind vertreiben, Gelände gewinnen und sichern, immer gemeinsam mit der afghanischen Armee. Sie sollen den zarten Fortschritt schützen, der in den vergangenen Jahren im Norden Afghanistans sichtbar wurde. Den ganzen Tag über kommen Menschen und Material für das Gefecht in das Lager. Eine weitere Kompanie trifft als Verstärkung ein. Am Eingang hängt ein Schild an einer Mauer. Darauf steht, dass hier die Straßenverkehrsordnung gilt - ein ironischer Seitenhieb auf die Regulierungswut deutscher Beamter in Uniform. Soldaten spielen Backgammon oder Karten. Wer den Kopf frei hat, liest ein Buch. Ein Soldat, der von allen nur Shorty gerufen wird, füttert die beiden zugelaufenen Hunde "Blondie" und "Krätze" mit Dosenwurst. Ein Feldwebel verteilt Feldpost und die gesammelten "Bild"-Zeitungen der vergangenen Woche. "Oh Mann, was soll ich meiner Alten denn antworten? Die fragt mich, wie es sich anfühlt, wenn ich beschossen werde oder über eine Mine fahre", fragt ein Gefreiter seinen Nachbarn nach der Lektüre eines Briefes.

Eine Woche Staub, Tütenfutter und Beschuss, danach fünf Tage ausspannen im Feldlager

Normalerweise schiebt nur eine Kompanie Dienst im Camp; vier Züge, insgesamt 150 Mann, immer gefechtsbereit. Eine andere ist draußen im Feld, sichert die Zufahrtsstraßen, die das Militär Pluto, Kamins oder Cherry getauft hat, sowie die strategisch wichtigen Höhen 431 und 432 - es ist ein mickriger Geländegewinn, alles andere links und rechts davon kontrollieren die "Kuddels", wie die Extremisten von den Soldaten genannt werden. Eine Woche Staub, Tütenfutter und Beschuss, danach fünf Tage ausspannen im Feldlager Kundus: Filme gucken, warm duschen, Billard spielen oder Tischfußball spielen, mit der Familie oder der Freundin telefonieren, ein Bier trinken im Lummerland, der Lagerbar. Oder sich über die unverschämt langsame Internetverbindung ärgern.

Draußen herrscht Krieg, drinnen meist Langeweile. Zwischen der totalen Anspannung und der totalen inneren Leere geht irgendwann jede Normalität verloren. Die Probleme zu Hause werden bedeutungslos.

Er war sich bewusst, nach Afghanistan verlegt werden zu können

Der Krieg im Norden Afghanistans weitet sich immer mehr aus. Seit dem vergangenem Jahr operiert deshalb auch eine Brigade amerikanischer Soldaten im Gebiet der Bundeswehr, weil die Deutschen alleine mit der Situation nicht mehr fertig werden. 2010 war das verlustreichste Jahr für die Koalitionstruppen am Hindukusch 711 Soldaten kamen ums Leben. Seit Beginn des Krieges vor zehn Jahren starben 2515 Soldaten, darunter 51 Deutsche.

In 13 Feuergefechte mit Aufständischen war Krallmeisters Kompanie in den vergangenen Monaten verwickelt. Ständig geraten Fahrzeuge in Sprengfallen oder werden mit Maschinengewehren, Raketen oder Panzerfäusten beschossen. Selbst gebaute Bomben sind zur größten Bedrohung für Patrouillen geworden; Kanister gefüllt mit Düngemittel und Diesel gegen deutsches Hightech. Auch Krallmeisters Zug musste schon vier verwundete Soldaten in die Heimat zurückschicken; einen davon mit gebrochenem Wirbel.

Alexander Krallmeister ist hier, weil seine Einheit für den Einsatz ausgewählt wurde. Freiwillig hat er sich nicht gemeldet, aber allen war bewusst, dass sie nach Afghanistan verlegt werden können. Einige haben ihre Dienstzeit verlängert, um sich im Feld zu beweisen, damit die Ausbildung, all die Schinderei, nicht umsonst gewesen ist. Sie sind Berufssoldaten und für solche Einsätze ausgebildet, vorbereitet worden auf Kampf und Tod. "Aber solche Gedanken lasse ich im Einsatz nicht zu", sagt Krallmeister. Manchmal schleichen sie sich doch ins Bewusstsein - wenn Kameraden verletzt wurden, die man kennt. Dann muss der Kommandeur seinen Leuten die Wut aus dem Bauch reden. Und jeder zwingt sich, freundlich zu bleiben, den Kopf frei zu halten. Sonst drückt einer aus Versehen ab, aus Angst und Unsicherheit; weil plötzlich aus jedem Bartträger ein Taliban wird und jeder Benzinkanister zu einer Sprengfalle.

"Der Feind weiß mit Sicherheit, dass wir kommen"

Je näher der Angriff auf das Dorf rückt, desto langsamer vergeht die Zeit. Am Nachmittag übt Krallmeisters Zug den Häuserkampf im Hof des Lagers. "Wir haben zwar schon ein paar Mal was auf die Fresse bekommen, aber so einen Angriff haben wir auch noch nie durchgeführt", sagt Krallmeister. Die Sonne blendet, eine Aufklärungsdrohne summt am Himmel, Krallmeister läuft Schweiß in die Augen, während er mit seinem G-36 auf imaginäre Stellungen zielt. Sein bester Kumpel Timmy klettert an einer Leiter eine Schutzmauer empor und erschreckt eine Gruppe afghanischer Polizisten, die auf der anderen Seite entlanggehen. Ein paar Schritte weiter testen Sanitäter ihre Tragen. Um 17 Uhr verkündet Hauptmann Martin Wolle, dass die afghanische Kompanie nicht an dem Angriff teilnehmen will. "Dann eben nicht. Wir können das auch allein durchziehen, kein Problem", sagt einer.

19 Uhr, Lagebesprechung vor dem Schlafengehen: Hauptmann Wolle geht davon aus, dass sich etwa hundert "Kuddels" in Nahr-e Sufi verschanzen. Vielleicht 150, "wenn wir Pech haben. Der Feind weiß mit Sicherheit, dass wir kommen." Wolle warnt vor den Stellungen der Taliban, vor Panzerfäusten und Sprengfallen. Zwei Uhr wecken, drei Uhr abmarschbereit, 3.30 Uhr ausrücken - das ist der Plan. Kurz darauf detoniert ein paar Kilometer vom Lager entfernt eine Bombe - die "Kuddels" haben eine Brücke in die Luft gesprengt. Kein Grund zur Sorge, die meisten Soldaten legen sich früh schlafen, Kraft tanken. Einige wälzen sich unruhig auf ihren Feldbetten hin und her, andere hören Musik.

Kurz vor Mitternacht geht ein Stöhnen durch das Lager, gefolgt von Flüchen. Männer wühlen sich aus ihren Schlafsäcken, schütteln ungläubig mit den Köpfen. Wenige Minuten später wissen alle: die Aktion ist abgeblasen. Ohne afghanische Soldaten läuft nichts, zu gefährlich, hat das deutsche Führungskommando entschieden, drei Stunden vor dem Angriff auf Nahr-e Sufi. Hauptmann Wolle tobt; die Planung, das Training - alles umsonst. Endlich wäre man dem Feind einen Schritt voraus gewesen, wieder nichts.

Am nächsten Morgen ist die Stimmung eisig, die Soldaten sind wütend. "Warum machen wir den Scheiß hier eigentlich, wenn unsere Verbündeten nicht kämpfen wollen", schimpft einer und kickt seinen Kampfstiefel in einen Sandsack. "Blöde Kuddels. Jetzt können wir wieder nur reagieren. Verdammt, einmal mit Profis arbeiten - nur für fünf Minuten."

Während einer Patrouille detoniert neben einem deutschen Soldaten eine Sprengfalle

Draußen geht in den nächsten Tagen der Krieg weiter: Aufständische besetzen einen Operationsposten der Bundeswehr, den die Soldaten für den geplanten Angriff verlassen haben, vor dem Lager gehen dreizehn Kämpfer in Stellung. Während einer Patrouille detoniert neben einem deutschen Soldaten eine Sprengfalle. Die Druckwelle zerreißt sein Trommelfell und wirft ihn gegen eine Wand. Er wird wenig später von einem amerikanischen Sanitätshubschrauber abgeholt und ins Feldlazarett geflogen. Andere Einheiten stehen draußen in Gefechten, die Aufständischen schießen Mörsergranaten auf deutsche Stellungen ab, und Krallmeisters Zug steht im Lager bereit, die Soldaten notfalls freizuschießen. "Wir haben den Zugang zur Westplatte und einen Operationsposten verloren, einen Verwundeten, und die Taliban greifen jetzt uns an, toll", murmelt ein Soldat neben Krallmeister.

Wenig später sitzt Krallmeister am Steuer eines gepanzerten Dingo und fährt mit der Einheit zurück ins Hauptquartier. Ein Soldat sagt, dass man "die Kuddels platt gemacht hätte, wenn man uns gelassen hätte." Zwei Tage später greifen amerikanische Spezialkräfte Nahr-e Sufi an. Neun Taliban und ein Soldat sterben. Den Deutschen bleibt die Rolle der Zuschauer.