Wenn es dunkel wird in Gaza, verbarrikadieren sich die Bewohner in ihren Häusern. Draußen donnern die Raketen und heulen die Krankenwagen, drinnen weinen die Kinder. Väter, denen der Angstschweiß das Hemd verklebt, versuchen zu beruhigen.

Eine Spielzeugpistole schwimmt in einer Blutpfütze. In einer anderen Blutlache liegt ein Paar Sandalen, das einem der Kinder gehörte, die bis vor wenigen Minuten noch lebten und in dem kleinen Park des Beach Refugee Camps vielleicht gerade Fangen spielten oder Fußball. Durch die Wasserrinne auf der Straße rinnt Blut. Die Bäume haben keine Blätter mehr. Sie liegen auf der Straße, auf den Dächern der zerstörten Autos, in den Blutlachen. Das Blut, das die Blätter rot färbt, ist von acht toten Kindern und drei Erwachsenen, die am Montagnachmittag gegen 17 Uhr Ortszeit bei einer starken Explosion am Eingang des Parks bei einem Füchtlingslager in Gaza gestorben sind.

 

Mindestens 40 weitere Personen wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Der Ort der Explosion ist ein Ort des Grauens, an Häuserwänden kleben Überreste menschlichen Gewebes. Ein Vater rennt mit einer Plastiktüte in der Hand zu dem Rettungswagen, in dem seine tote Tochter liegt. Der Vater zeigt dem Sanitäter Gehirnmasse seiner Tochter, indem er den Boden der Plastiktüte behutsam anhebt. „Nimm das mit für die Bestattung“, sagt er zum Sanitäter. Ein anderer Vater trägt seinen toten Sohn zur Ladefläche eines Pritschenwagens. Er wird von Männern begleitet, die „Allahu Akbar“, „Gott ist groß“, rufen und dabei Handyfotos von der verstümmelten Leiche aufnehmen. Anwohner versuchen eine schreiende Frau, die ihre Schwester verloren hat, zu beruhigen. Ein Mann liegt bewusstlos auf der Straße. Ein Arzt versucht ihn wiederzubeleben. Szenen eines Nachmittags in Gaza-Stadt.

Eine fehlgeleitete Rakete der Hamas?

Die Hamas macht einen israelischen Angriff für die Explosion am Park verantwortlich, ein Sprecher des israelischen Militärs beharrt jedoch darauf, dass eine fehlgeleitete Rakete der Hamas das Blutbad angerichtet hat.

Überall herrscht das Entsetzen. Foto: AFP

Wenig später bricht die Nacht über Gaza-Stadt herein. Israelische F16- und F22-Kampfjets donnern mit gewaltigem Lärm im Tiefflug über die Stadt, der zwischen den Wänden der Hochhäuser, die noch stehen, widerhallt. Etwa alle 30 Sekunden feuern sie eine Rakete ab. Das omnipräsente Sirren der Kampfdrohnen, die über dem gesamten Gazastreifen kreisen, klingt wie das Motorenbrummen, das aus den Fernsehlautsprechern einer Formel-1-Übertragung schallt.

Zu erleben ist eine wirklich imponierende Darbietung militärischer Zerstörungskraft, eine wahrlich außergewöhnliche Aufbietung des Waffenarsenals der israelischen Streitkräfte, einer der modernsten Streitkräfte der Welt. Der Dauerbeschuss dieser Nacht, der schlimmsten seit Beginn der Kämpfe, zu Luft, zu Land und zu See, versetzt die Bevölkerung des Gazastreifens kollektiv in Todesangst.

Während ich diese Zeilen schreibe, um mich zu beruhigen, bin ich nicht im Al-Deira Beach Hotel am Strand von Gaza, in dem die ausländischen Korrespondenten Schutz suchen. Ich bin im Wohnhaus einer muslimischen Familie im Zentrum von Gaza-Stadt. In den Nachbarwohnungen unseres Hauses schreien kleine Babys ohne Unterbrechung, weinen verängstigte Kinder in den Armen ihrer Mütter. Die Erwachsenen, vor allem die Männer, fluchen, um ihre Angst zu verbergen.

Die Drohnen sind allgegenwärtig. Foto: AFP

Die Bombardierungen beginnen um 23.30 Uhr Ortszeit in der Nacht zum Dienstag mit heftigen Fliegerangriffen auf das Flüchtlingslager Bureji im Zentrum des Gazastreifens. Seit ein Uhr steht das Zentrum von Gaza-Stadt unter Feuer, eine eng bebaute Stadt, die mit ihren Hunderttausenden Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt gehört. Meine Gastfamilie verbarrikadiert sich im Wohnzimmer und hört, wie die Einschläge der Raketen immer näher in ihre Richtung kommen. Wer später dann auf den Balkon im zweiten Stock tritt, sieht die Stadt gänzlich verändert. Vor einer Trümmerlandschaft breitet sich das Panorama eines Infernos aus. Unzählige militärische Leuchtstoffkugeln machen den nächtlichen Himmel über Gaza zum Tag und ermöglichen das Erkennen neuer Ziele.

Die Kinder zittern am ganze Leib

Das Licht der langsam zu Boden gleitenden Leuchtstoffkugeln durchdringt die pilzformartigen Staubwolken, die nach jedem Raketeneinschlag aus Richtung des jeweils zerstörten Hauses in die Höhe schießen. Bei jeder Explosion in der Nähe bebt das Fundament des Hauses, wackelt der Sims des Balkons; ertönen die Alarmanlagen der Autos, die vor dem Haus parken. Die Hunde bellen wie verrückt, aufgescheuchte Esel, die im Gazastreifen alltägliches und allgegenwärtiges Transportmittel sind, laufen ziellos durch die Straßen und kreischen noch lauter als die Babys. All die Geräusche des Krieges und Schreie der Angst vermischen sich mit dem Heulen der Sirenen der Rettungswagen zu der Sinfonie einer Großstadt im Krieg, deren wiederkehrendes Leitmotiv der tosende Donner der Raketen ist und deren Komponist irgendein die Zerstörung berechnender Oberbefehlshaber in Jerusalem. Die Armee wird am nächsten Tag von 70 angegriffenen Zielen sprechen. Dramatisch ist dabei auch, dass das einzige Kraftwerk von Gaza attackiert und teilweise zerstört wird. Es gibt keinen Strom mehr, auch nicht für die Pumpen der Wasserversorgung.

In den Straßen herrscht das Chaos. Foto: EPA

Morgens um fünf, als das Dauerbombardement anhält, wird auch noch das Krähen des Hahnes im Hinterhof in die Sinfonie miteinstimmen, hoffentlich als finaler Schlussakt. Noch mehr Raketeneinschläge verkraften die Menschen wohl nicht. Die Kinder, und auch mancher Erwachsene, zittern schon die ganze Nacht am ganzen Leib. Maher Issa, meinem Gastgeber, läuft der Angstschweiß den Rücken hinunter. Sein Hemd ist klatschnass.

Die heftigsten Angriffe seit langem

Jetzt schlägt wieder eine Rakete nur wenige Hundert Meter von uns entfernt ein. Sie trifft die Al-Amin-Moschee, die direkt neben dem Haus des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas (Fatah) liegt. „Ich gehe in der Al-Amin-Moschee jeden Tag beten“, sagt Maher. „Jetzt muss ich auf die Al-Furqan-Mosche ausweichen, die jedoch viel weiter von unserem Haus entfernt liegt, wenn die Al-Furqan-Moschee nicht auch heute Nacht zerbombt wurde.“

Später erfährt Maher Issa durch den Telefonanruf eines Freundes, das in dieser Nacht auch das Haus von Ismael Haniya, des früheren palästinensischen Ministerpräsidenten und Hamas-Führers, zerstört wurde sowie das Finanzministerium. „Das hat Israel gemacht, damit die Hamas ihren Angestellten in der Verwaltung und in den Sicherheitsdiensten kein Gehalt mehr zahlen kann“, sagt Maher. In einer Liveschaltung des arabischen Fernsehsenders Al-Dschasira sind viele Kinder und Frauen mit starken Verbrennungen und schweren Verletzungen zu sehen, die von unermüdlichen Rettungskräften oder Nachbarn ins Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt gebracht wurden. Frauen und Kinder, die in dieser Nacht nur friedlich schlafen wollten.

Froh ist, wer noch ein Dach über dem Kopf hat. Foto: AP

Inzwischen ist klar, dass dies keine ganz normale Nacht ist in Gaza-Stadt. „Es sind die heftigsten Angriffe seit Beginn des Krieges vor drei Wochen und sogar die intensivste Bombardierung während aller der drei Gaza-Kriege seit Dezember 2008“, schätzt Maher mit leerem Blick. Er wirkt total verzweifelt. Augenzeugenberichten zufolge sterben in dieser Nacht mindestens 30 Zivilisten. Dass die Intensität der Bombardierung dieser Nacht mit keiner Nacht, die Gaza jemals zuvor erlebt hat, zu vergleichen ist, beobachtet auch der Al-Dschasira-Korrespondent, der gerade aus der Lobby des Al-Deira Beach Hotels live dem um Fassung ringenden Moderator in Doha ein Telefoninterview gibt.

Die Hamas schießt weiter Raketen auf Israel

An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken in Gaza. Alle bangen um ihr Leben, alle fürchten sich vor den nächsten Schlägen, alle sorgen sich um ihre Verwandten und Freunde. „Hayak Allah!“, rufen die Mitglieder meiner Gastfamilie jedes Mal aus, wenn eine Rakete in den Boden kracht: „Gott stehe uns bei!“ Und nach jedem Bombeneinschlag fachsimpeln die Jungs, ob dies nun das Geschoß eines F16-, eines F-22-Fliegers oder eines israelischen Kriegsmarineschiffes war.

Das Ausmaß der Zerstörung ist groß. Foto: AFP

Am Morgen werden die Menschen von Gaza, die diese Nacht überlebt haben, ihre Toten zählen. Allerdings nur, sofern dieses Höllenfeuer irgendwann einmal aufhört, denn während solcher Angriffe, ob bei Tage oder bei Nacht, kann niemand aus dem Haus gehen, ohne sein Leben zu riskieren. Er wäre sofort im Visier der Drohnen, welche die Umgebung nach möglichen Zielen auskundschaften und die genauen Zielkoordinaten in Sekundenschnelle an die Bomberpiloten übermitteln. „Sobald die Angriffe beendet sind, können wir in unserer Nachbarschaft nach Verletzten in den zerstörten Häusern suchen“, sage ich zu Maher, der gerade den Schlauch der Wasserpfeife an seinen Freund weiterreicht. Er schaut mich ernst an: „Sie werden niemals aufhören, uns anzugreifen. Sie wollen uns bekämpfen, bis wir alle tot oder vertrieben sind. Das ist hier ist ein Völkermord.“

Jetzt, am Dienstagmorgen, auf dem Weg in das Al-Deira Beach Hotel wird das Ausmaß der Zerstörung dieser Nacht deutlich. Überall auf den Straßen liegen Scherben und Trümmer. Im Morgenlicht liegt auch die völlig zerstörte Al-Amin-Moschee. Die Hamas schießt auch in dieser Nacht wieder Raketen auf Israel ab.