Mit der Kriegsreporterin Carolin Emcke wird am Freitag im Literaturhaus Stuttgart das Festival „Change“ eröffnet. Im Zentrum steht der Zusammenhang von Literatur, Kunst und gesellschaftlichem Protest. Ein Gespräch über Sprache, Gewalt und Flüchtlingsschicksale.

Kultur: Stefan Kister (kir)
Stuttgart - Als Journalistin kennt sich Carolin Emcke in den Kampfzonen unserer Zeit bestens aus. Sie hat Vorlesungen über die Zeugenschaft von Kriegsverbrechen gehalten. Gewalt begleitet ihren Lebensweg in unterschiedlichster Ausprägung. Über das RAF-Attentat auf ihren Patenonkel Alfred Herrhausen hat sie ebenso geschrieben wie über die gesellschaftliche Formatierung der eigenen Sexualität. Zu ihren klugen Lesarten unserer Wirklichkeit gehört der Blick in die Gegenwärtigkeit des Schreckens, aber auch der in die Tiefen der Kulturgeschichte.
Sie haben die Krisenherde der Welt bereist, wie nah muss man an die Wirklichkeit herangehen, um sie zu verstehen?
Es braucht keine direkte Anschauung. Es braucht dichte Beschreibungen einerseits und emphatische Vorstellungskraft andererseits. Aber natürlich empfindet man eine andere Dringlichkeit und auch Verantwortung, wenn man Not und Verzweiflung riechen, hören, sehen kann. Als Beobachterin vor Ort braucht es einen Wechsel aus Nähe und Distanz, es braucht Nähe zu den Menschen, Geduld auch, aufmerksames Zuhören und Hineinversetzen – und dann braucht es Momente der Reflexion, des Hinterfragens, des Dechiffrierens.
Sie leiten Ihre Kolumnen häufig mit entlegenen literarischen Zitaten und kulturellen Beobachtungen ein, von denen aus sie den Bogen zu konkreten politische und gesellschaftlichen Themen schlagen. Kann auch Literatur die Wirklichkeit beglaubigen?
Ach, ich versuche erst einmal innezuhalten und dieser Neigung, allzu schnell zu reagieren, zu widerstehen. Es gilt, das Tempo aus der Diskussion zu nehmen und zu fragen: worum geht es im Kern? – Dabei hilft mir die Lektüre von Gedichten, Literatur, Essays oder Philosophie. Ich will zum Nachdenken, Zweifeln, Abwägen einladen.
Sind Autoren die genaueren Beobachter?
Nicht generell. Aber mich interessieren immer auch literarische Beschreibungen, fiktionale Texte aus einer Gegend, weil sie andere Räume kartografieren, emotionale, poetische. Nehmen wir Osteuropa und Russland. Ich wusste und weiß sehr wenig über diese riesige, vielfältige Region. Allein die politischen Kontroversen im Zuge des Ukraine Konflikts zu verfolgen, hilft irgendwann nicht weiter. Aber Katja Petrowskaja zu lesen, Olga Grjasnowa, Svetlana Alexijewitsch – das sind ganz unterschiedliche Autorinnen, die sehr unterschiedlich mit historischem oder imaginärem Material arbeiten. Aber sie alle beobachten und schreiben so genau und zart, dass sie meine eigene Vorstellung erweitern und vertiefen.
Sie beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit. In ihren Büchern kommen diejenigen zu Wort, denen das Erlebte die Sprache verschlagen hat. Ist Sprache eine Form der Gerechtigkeit?
Nach meiner Erfahrung hat es den Opfern von Gewalt nicht unbedingt die Sprache verschlagen, sondern das Vertrauen in die Welt und in Andere. Sie können durchaus sprechen. Nur klingen sie oftmals anders als wir es erwarten, die wir solche Gewalt nicht durchlitten haben: sie stocken, verhaspeln sich, erzählen rückwärts, sie sind aufgeregt. Es ist weniger so, dass sie das Sprechen lernen müssten, sondern wir als Gegenüber müssen das Zuhören lernen. Und ja, in der Zeugenschaft, im Zuhören und dann eben auch Erzählen liegt ein Anspruch der Gerechtigkeit.
Gibt es auch eine Sprachlosigkeit der Täter?
Das wechselt. Es hängt von dem Kontext ab: Sprechen sie privat, unter Gleichgesinnten. Oder sprechen sie öffentlich, vor Gericht. Was kostet sie das Sprechen? Es gibt Folterer, Mörder, die voller Überzeugung von ihren Taten sprechen. Sie glauben an die Rechtmäßigkeit der Gewalt, weil sie daran glauben, dass ihre Opfer keine Menschen, sondern Insekten seien, etwas, das gequält oder getötet werden darf. Vor Gericht sind sie dann schon stiller.