In Barack Obamas Heimat Chicago häufen sich Gewaltverbrechen. Die Mordrate übersteigt bei weitem die von Metropolen wie Los Angels und New York. Die Politik ist ratlos – viele Bürger setzen auf Selbstjustiz.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Chicago - Ein 39-jähriger Bauarbeiter steht kurz nach Mitternacht an einer Straßenecke und plaudert mit einem Freund. Dann fallen Schüsse aus dem Nichts. Der unbescholtene Vater von vier Kindern ist tot. Zwei zu Tode geprügelte Männer werden in einem Kofferraum gefunden. Ein 17-Jähriger und ein 33-Jähriger erliegen Schusswunden. Ein normaler Tag in Chicago. Barack Obamas Heimatstadt verzeichnet einen traurigen Trend: Sie ist die einzige amerikanische Millionenstadt, in der die Mordrate steil nach oben geht. Mit mehr als 400 Morden ist die Zahl der Toten in diesem Jahr um ein Viertel höher als 2011. In Los Angeles und New York hingegen sinkt die Rate seit Jahrzehnten.

 

Die meisten Opfer sind Schwarze. Armut und Drogen sind der Nährboden für eine Kultur, in der vor allem bei jungen schwarzen Männern ein Menschenleben nichts wert ist. „Diese Stadt dreht durch. Es sind nicht mehr nur Morde innerhalb von Gangs – es sind völlig willkürliche Tötungen“, klagt ein schwarzer Pastor, der in seiner Gemeinde zuletzt vier junge Leute beerdigen musste. Barack Obamas Ex-Stabschef Rahm Emanuel, der heute Bürgermeister von Chicago ist, will sich dem Trend vor allem mit mehr Polizeipräsenz entgegenstemmen. Aber wegen der Haushaltsnöte der Stadt ist die Zahl der Polizisten binnen zwei Jahren von 12 000 auf 11 000 gesunken.

US-Präsident Obama hat sich vor Kurzem mit einer Fernsehansprache an die Menschen in Chicago gewandt und sie ermahnt, „ihren Kindern eine tiefere Wertschätzung für moralische Werte in ihrem eigenen Leben und dem Leben von anderen zu geben“. Doch die Realität sieht düster aus: Fast jeder vierte junge Afroamerikaner ist in Chicago arbeitslos. Das ist eine der höchsten Quoten in den USA. Im Stadtviertel Little Neighborhood beispielsweise liegt die Quote der Schulabbrecher bei 50 Prozent. Schätzungsweise 3000 der 90 000 Bewohner sind dort Mitglieder von Gangs. Erfahrungen anderer Städte wie New York zeigen, dass eine Trendwende Zeit braucht und eine Kriminalpolitik, welche schon kleine Delikte konsequent ahndet. Chicago ist hier erst am Anfang. Und so steht der Lösungsvorschlag eines 74-Jährigen für die Frustration vieler Bürger: „Besorg dir eine Schusswaffe – und schieß zurück.“