Jahrelang ist in New York die Kriminalität zurückgegangen. Doch jetzt werden die Straßen dort wieder unsicher. Die Polizei spielt das Problem herunter.

New York - Denise Gay liebte es, an warmen Sommerabenden auf dem Treppenabsatz vor ihrem Haus zu sitzen, es war für sie eine wunderbare Art, sich die Zeit zu vertreiben, wenn es in ihrer Wohnung in Brooklyn zu stickig war. Sie konnte den Kindern beim Spielen auf der Straße zuschauen, und es fand sich immer jemand zum Plaudern, schließlich wohnte die 56 Jahre alte Krankenpflegerin schon ihr Leben lang in der Nachbarschaft.

 

An diesem 5. September wäre Denise allerdings lieber in der Wohnung geblieben. Denn die idyllische baumbewachsene Allee, an der sie wohnte, verwandelte sich an jenem Abend in ein Schlachtfeld. Es begann mit einem Streit zwischen zwei jungen Männern, die rasch zu einer Schlägerei ausartete. Dann zog der eine, der 32 Jahre alte Daniel Webster, eine Pistole und schoss den anderen nieder.

Insgesamt 90 Schüsse

Nur Minuten später traf die Polizei ein, doch ihre Ankunft machte die Dinge nur noch schlimmer. Es fielen insgesamt 90 Schüsse. Am Ende war Webster tot, ein Beamter schwer verletzt, und Denise Gay lag in sich zusammen gesunken auf ihrer Haustreppe. Ein Querschläger hatte sie in den Kopf getroffen, sie war auf der Stelle tot.

Der Zwischenfall war allerdings nicht der einzige an jenem Wochenende, sondern der traurige Höhepunkt einer dreitägigen Gewaltorgie, wie sie New York seit 20 Jahren nicht mehr erlebt hatte. 13 Menschen waren tot und 53 angeschossen. Auf dem gesamten Stadtgebiet war es zu insgesamt 67 Schießereien gekommen.

Blutiges Labor-Day-Wochenende

Die Eruption war eine Peinlichkeit sondersgleichen für den Bürgermeister Michael Bloomberg und seinen Polizeichef Ray Kelly. Seit Bloombergs Vorgänger Rudy Giuliani in den 90er Jahren mit eiserner Hand die Straßen New Yorks aufgeräumt hat, brüstet sich die Stadt damit, zu den sichersten der USA zu gehören. In der Rangliste der kriminellsten Orte des Landes rangiert New York nicht einmal mehr unter den ersten 25. Man konnte in den vergangenen Jahren selbst in ehemaligen Problemgegenden wie Harlem oder der Bronx sorglos im Dunkeln von der U-Bahn nach Hause laufen.

Doch das blutige Labor-Day-Wochenende fühlte sich für viele New Yorker an wie ein Rückfall in alte Zeiten an. Bis in die frühen 90er Jahre war New York eines der heißesten Pflaster Amerikas. Man rechnete überall und ständig damit, überfallen zu werden, kaum einem Manhattaner blieb es erspart, einmal in einer dunklen Gasse seinen Geldbeutel an einen bewaffneten Räuber abgeben zu müssen. Bestimmte Viertel waren Tabuzonen, wem sein Leben lieb war, vermied es, mit der U-Bahn über die 125. Straße hinaus oder all zu tief nach Brooklyn hineinzufahren. Im Rekordjahr 1990 wurden 2245 Menschen umgebracht.

Giuliani setzte dieser Gesetzlosigkeit seine berüchtigte "Null Toleranz"-Politik entgegen. Schon der geringste Verstoß gegen die Grundregeln des öffentlichen Anstands wurden mit herbem Bußgeld geahndet - Graffiti, öffentliches Urinieren oder Abfallentsorgung auf der Straße. Zusätzlich führte sein heute legendärer Polizeichef Bill Bratton ein computergestütztes System der Verbrechensbekämpfung ein, mit dessen Hilfe die Herde der Gewalt auf dem Stadtplan exakt lokalisiert und die jeweiligen Polizeireviere entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

Ist die Krise schuld daran?


Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 bröckelt jedoch in New York die zivile Ordnung auf den Straßen wieder. Im Jahr 2010 ging in der Stadt erstmals seit den frühen 90er Jahren die Zahl der Gewaltverbrechen nach oben. Es gab 22 Prozent mehr Morde, 14 Prozent mehr Schießereien, 24,5 Prozent mehr Vergewaltigungen und 5,4 Prozent mehr Raubüberfälle als 2009. Viele dieser Vorfälle erinnerten an die schlimme alte Zeit, als auf den Straßen der Stadt Anarchie herrschte und die Polizei sich darauf beschränkte, das Chaos - so gut es eben ging - einzudämmen. Bei einer Straßenschlacht in der späten Nacht am Times Square wurden kürzlich vier Menschen erschossen und 33 verhaftet. Bei einer Messerstecherei in der U-Bahn starben zwei Menschen. Und auf den Schulhöfen der Stadt werden die Lehrer der Drogendeals und der blutigen Auseinandersetzungen kaum mehr Herr.

Die Stadt versucht noch immer, diese Entwicklungen als Anomalie zu darzustellen, als , die schon wieder verebben wird. Als Beleg dafür, dass die zivile Ordnung noch hält, führt der Polizeichef Kelly deshalb immer wieder an, dass bis jetzt lediglich die Zahl der Gewaltverbrechen steige. Andere Delikte in der Stadt nähmen hingegen weiterhin ab. Doch an solchen Statistiken wachsen immer mehr Zweifel. So hat die Wochenzeitung "Village Voice" in einer Artikelserie aufgedeckt, wie in vielen Polizeibezirken die Zahlen geschönt werden. Beamte gaben anonym zu, dass sie dazu gezwungen werden, regelmäßig schwere Delikte als Ordnungswidrigkeit herunterzuspielen. Aus Raubüberfällen wurde das unbefugte Betreten eines Grundstücks.

Nicht so einfach zu übertünchen

Die Rückkehr der Gesetzlosigkeit lässt sich so einfach nicht übertünchen. Insbesondere in den alten Problemvierteln tauchen auch die alten Probleme wieder auf. So tobt in Harlem seit Wochen ein Krieg zwischen zwei benachbarten Sozialsiedlungen. Auslöser war eine Schlägerei vor einem Supermarkt, bei der ein Mann schwer verletzt wurde. Als Rache dafür wurde nur Stunden später ein 17-jähriges Mädchen im Treppenhaus der Manhattanville Houses erschossen. Sein einziges Verbrechen sei es gewesen, sagte eine Nachbarin, dass es in diesem Wohnblock aufgewachsen sei.

Exakt diese Viertel sind am schwersten von der Wirtschaftskrise betroffen. Während in ganz New York die Arbeitslosigkeit im August bei acht Prozent lag, schoss sie seit 2008 in Harlem auf knapp 17 Prozent. Der ärmste Wahlbezirk der USA ist noch immer die Bronx, wo beinahe 30 Prozent der Bürger unter der Armutsgrenze leben. Wie überall in den USA trifft die Krise in New York die Ärmsten am härtesten.

Antiterrormaßnahmen lenken von Kernaufgaben ab

Die Kürzungen der öffentlichen Haushalte seit 2008 helfen nicht dabei, den sozialen Frieden in New York zu bewahren. Die Polizei musste seit 2000 etwa 7000 Beamte entlassen - knapp 20 Prozent ihrer Belegschaft. Und die dezimierte Truppe ist wegen Antiterrormaßnahmen von ihren Kernaufgaben abgelenkt. Der Polizeichef bittet trotzdem darum, nicht schwarzzumalen. Man sei noch lange nicht wieder bei den Zuständen der 80er angelangt, beteuerte er, als er versuchte, die neuesten Zahlen zu erklären. Doch das könnte schneller passieren, als Kelly und Bloomberg glauben. Laut der Theorie des Soziologen und Kultautors Malcolm Gladwell hat sich New York in den 90er Jahren rasend schnell zum Besseren gewandelt.

Genauso rasch könnten die Dinge wieder in die andere Richtung laufen. Dann wird man in ein paar Jahren das blutige Labor-Day-Wochenende und den Tod von Denise Gay als einen traurigen Wendepunkt betrachten - als Symbol für das Ende eine allzu kurzen Epoche des sozialen Friedens auf den Straßen von New York.