Die Polizei muss sich in Stuttgart immer wieder mit angeblichen Straftaten beschäftigen, die es gar nicht gegeben hat. Die erfundenen Verbrechen finden mitunter weite Verbreitung – doch wie lassen sich solche Fake News in Kriminalfällen erkennen?

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Nicht alle der 59 000 Straftaten in Stuttgart haben sich tatsächlich ereignet: Allein 86 Fälle gelten in der polizeilichen Kriminalstatistik als vorgetäuscht – ein leichtes Plus von knapp vier Prozent. Doch dies ist nur die Spitze eines Eisbergs. Im Zeitalter sozialer Netzwerke und anonymer Verbreitung übers Internet wächst die Zahl erfundener Verbrechen, mit denen sich die Polizei ohne Ergebnis beschäftigen muss. Derweil gerät auch die Presse ins Visier der Kritik – weil sie Fälle angeblich verschweigt.

 

Prügelei in der Stadtbahn

Der spektakuläre Fall soll sich am 7. Januar gegen 5 Uhr in Botnang zugetragen haben. Fünf Nord- und Schwarzafrikaner, so schreibt ein Stuttgarter unter der Mailadresse einer Firma, hätten in einer Stadtbahn einen Freund angegriffen. Der habe sich aber wehren können und drei der Angreifer in die Flucht geschlagen. Die beiden anderen verletzten Täter hätte er auch noch geschlagen, wenn die vom Stadtbahnfahrer alarmierte Polizei ihn nicht zurückgehalten hätte. „Warum wird darüber nicht berichtet?“, fragt der Schreiber und mutmaßt: „Ich bin mir sicher, Sie haben einen Maulkorb verpasst bekommen.“

Eine Gewaltstraftat mit mehreren flüchtigen Tätern, mit Verletzten, mit einer blockierten Stadtbahn – da müssten einige Beteiligte etwas mitbekommen haben. Das Führungs- und Lagezentrum etwa, das weitere Streifen zur Fahndung einsetzt, den Rettungsdienst verständigt; das Revier, dessen Streifenbeamte einen Tagebucheintrag und einen Bericht fertigen. Doch nichts von alledem: „Einen solchen Vorgang hat es nicht gegeben“, heißt es in einer Stellungnahme des Polizeipräsidiums. Auch die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) haben keine obligatorische Meldung des Stadtbahnfahrers an die Leitstelle registriert.

Womöglich könnte der Hinweisgeber zur Aufklärung beitragen. Wenn er erreichbar wäre. Die Firmen, unter deren Namen er die Mailadressen vor Jahren hat einrichten lassen, sind unter der angegebenen Adresse in der Innenstadt nicht aufzufinden. Telefonisch ist er unter seiner Wohnanschrift nicht zu erreichen. Zu Hause ist er nicht anzutreffen. Unser Schreiben in seinem Briefkasten mit Bitte um Rückmeldung ignoriert er.

Drogenhändler im Haus

„Besorgte Leidtragende“ sind es, die sich an die Presse wenden, um über „unhaltbare Zustände“ in einem Wohnhaus im Stadtbezirk Vaihingen zu klagen. Eine Familie betreibe einen florierenden Haschisch-Handel rund um die Uhr samt Anbau auf dem Balkon. „Pausenlos klingeln die Konsumenten jeder Altersklasse und Nationalität beziehungsweise melden sich zur Abholung ihres Stoffes via Handy an“, heißt es in einem Brief. Der Vermieter, ein Wohnungsunternehmen, tue nichts dagegen.

Am 23. Februar kümmert sich das Drogendezernat der Stuttgarter Kripo um den Hinweis. Die Beamten haben im vergangenen Jahr mit 4900 Fällen eine Rekordzahl an Drogendelikten aufgedeckt – dieser Fall wird allerdings nicht dazukommen. „Da ist nichts dergleichen festzustellen“, lautet die Antwort. „Der Hinweis entbehrt jeder Grundlage“, sagt der Sprecher des Wohnungsunternehmens. Der Hintergrund bleibt am Ende unklar.

Vergewaltiger am Bahnsteig

Eine angebliche Vergewaltigung an einer Stadtbahn-Haltestelle am Hauptbahnhof am 27. September 2015 hat einen oder eine Unbekannte nicht ruhen lassen. „Warnung an alle Frauen“ – unter dieser Überschrift wurden Flugblätter in der Innenstadt ausgehängt. „Es handelt sich aber um eine Falschmeldung“, sagt ein Polizeisprecher. Eine Polizeistreife, die eine Frau nach einem Vergewaltigungsversuch „mit Bisswunde und verschiedenen Wunden“ in Obhut nimmt, würde einen solchen Vorgang zwingend dokumentieren und nicht einfach nach Hause entlassen, so der Polizeisprecher. Es sei auch falsch, dass man die Beamten nicht habe identifizieren können, weil es angeblich eine Vielzahl von Vorfällen dieser Art gegeben habe. Falsch sei auch die Behauptung, die Polizei würde in diesem Fall „leider nichts unternehmen können“, weil eine Zeugenaussage der Betroffenen nicht vorliege. In so einem Fall würde intensiv ermittelt.

Der Fall war damit für den Anonymus nicht abgeschlossen. Noch über Wochen erhielten Polizei und Berichterstatter anonyme Schmähschreiben. Der oder die Unbekannte fühlten sich im Recht: „Die Poster waren nicht dafür gedacht, Panik zu verursachen, aber sie sollten die Frauen warnen, damit nicht noch einmal so etwas passiert.“

Das verschwundene Schaf

In Meßstetten im Zollernalbkreis, Sitz der Landeserstaufnahmestelle, macht seit zwei Jahren das Gerücht die Runde, Flüchtlinge hätten aus dem Streichelzoo ein Schaf gestohlen, geschlachtet und verspeist. Der Schäfer Peter Deufel weiß es freilich besser: „Ich hatte die Schafe ins Winterquartier genommen, und alle sind wohlauf.“ Doch selbst aus der Jägerschaft sei er auf die angebliche Schlachtung angesprochen worden. Als seine Frau im Wartezimmer einer Arztpraxis einer älteren Dame habe widersprechen wollen, hätte die unbeeindruckt gesagt: „Ich weiß es aber ganz sicher.“

Was dahinter steckt

Dass sich die Leute auch bei erfundenen Geschichten „ganz sicher“ sind – für Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, ist das kein Wunder. „Die Geschichten sind präzise, farbig, plastisch – und haben eine innere Überzeugungskraft für Menschen, die Belege für ihre eigene Weltanschauung suchen“, sagt er. Mit dem Internet gebe es „barrierefrei eine neue Leichtigkeit der Medien, mit der man sich seine Welt zusammengoogeln kann“, so Pörksen.

Dass die Zahl erfundener Verbrechen wächst und zunehmend geglaubt wird, wundert ihn nicht: „Kaum jemand interessiert sich für die Quelle der Information“, sagt Pörksen. Auf dem Mobiltelefon liefen Daten der unterschiedlichsten Qualität und Glaubwürdigkeit „unterschiedslos zusammen“. Und wenn etwas weit verbreitet werde, müsse ja was dran sein. Das Motiv der Urheber? „Die einen wollen Politik machen, etwa fremdenfeindliche Vorurteile schüren“, sagt Pörksen, „die anderen wollen mit Klicks Geld verdienen.“ Falschmeldungen weiterzuverbreiten sei aber auch eine „Überforderung“ und ein „Versuch der Verarbeitung“ einer schlechten Nachricht.

Was vor allem die Polizei belastet: „Oft sieht ein Kind einen verdächtigen Mann, und dann schaukelt sich das hoch, weil die Eltern das über soziale Netzwerke weiterverbreiten“, sagt der Stuttgarter Polizeisprecher Stefan Keilbach. Allgemein gebe es unter den täglich 400 bis 660 Einsätzen in Stuttgart „viele Fälle“, bei denen es sich um Falschmeldungen oder Fehleinschätzungen handele. Und doch müsse man jedem Hinweis nachgehen, betont Keilbach: „Das ist unsere Profession.“