Je höher Europa die Mauern gegen Flüchtlinge zieht, um so mehr verdienen die Schleuser, sagt der italienische Kriminologe Andrea Di Nicola. Er hat zwei Jahre entlang der Hauptrouten der Schleuser recherchiert.

Stuttgart – - Smart, gebildet, einnehmend: Schleuser sind oft gar nicht so, wie man sich das vorstellt. Der italienische Andrea Di Nicola hat zwei Jahre in ihrem Milieu recherchiert. Der Experte für organisierte Kriminalität an der Universität Trient sagt, nach dem Drogenhandel beziffert das Geschäft der Schleuser weltweit auf zehn Milliarden Dollar im Jahr.
Herr Di Nicola, Sie haben zwei Jahre entlang der Hauptrouten illegaler Immigration recherchiert und mit vielen Schleusern gesprochen. Wie ticken diese Leute?
Andrea Di Nicola Foto: StZ
Das sind clevere Typen. Gute Geschäftsmänner, die immenses Geld verdienen. Und ganz anders als man sich gemeinhin einen Schleuser vorstellen würde. Nehmen wir den Mann etwa, der ein ägyptisches Schleusernetzwerk kontrolliert: Er nennt sich El Douly, also ‚der Internationale‘. Er ist Mitte 40, sehr gebildet, spricht mehrere Sprachen. Immer, wenn wir ihn getroffen haben, trug er fünf bis sechs internationale Zeitungen mit sich. Er hält sich auf dem Laufenden, was sich in Europas Flüchtlingspolitik tut, um in seiner Arbeit möglichst schnell darauf reagieren zu können. Was bei den Gesprächen mit den Schleusern außerdem auffallend war: Viele sind − verstehen Sie mich nicht falsch − auf gewisse Art ziemlich einnehmend: Sie sind offen und können mit Leuten sehr gut umgehen. Dennoch: Unterm Strich geht es ihnen natürlich darum, viel Geld zu machen. Mit dem Risiko, dass ihre „Klienten“ − so nennen sie die Flüchtlinge − dabei sterben.
Skrupellos also.
Das hängt davon ab. Manchen ist das Schicksal der Flüchtlinge egal. In Libyen etwa ist das derzeit oft der Fall − aufgrund des dortigen Chaos und der nicht versiegenden Flüchtlingsströme wittern viele Pfuscher eine Gelegenheit für schnelles Geld. Andere dagegen kümmern sich tatsächlich um die Flüchtlinge − natürlich aus Eigeninteresse: Je mehr Leute sie heil nach Europa bringen, umso besser ist ihr Ruf, umso mehr neue Kunden gewinnen sie und umso mehr Profit machen sie. Um beim Ägypter El Douly zu bleiben, er argumentiert ungefähr so: ‚Ich weiß, dass die Flüchtlinge sterben könnten. Aber ich gebe mein Bestes, sie sicher nach Europa zu bringen.‘
Wie nehmen sich die Schleuser selbst wahr?
Sie sehen sich als Wohltäter, manche sogar als Art Heilige. El Douly erzählte etwa, in einigen Gegenden Ägyptens küssen ihm Dorfbewohner die Hände. Generell treten Schleuser gerne als Leute auf, die Träume verkaufen à la: ‚Wollt ihr ein menschenwürdiges Leben im Westen, bin ich eure einzige Option.‘ Die Flüchtlinge sehen das übrigens ähnlich − in ihren Augen sind Schleuser auch Wohltäter. Sie sagen: ‚Niemand kümmert sich um meine Probleme, aber die helfen mir wirklich.‘
Und das Risiko zu sterben?
Das nehmen die Flüchtlinge in Kauf. Oft heißt es: ‚Wenn ich in meiner Heimat bleibe, werde ich sterben. Wenn ich flüchte, sterbe ich vielleicht auch. Aber zumindest besteht die Chance zu überleben.‘
Wie läuft eine Schleuseraktion ab; ist da eine einzige Person von A bis Z verantwortlich?
Nein. Das ist ein verästeltes Netzwerk mit einem sehr hohen Grad an Arbeitsteilung. Man kann sich das vorstellen wie eine große, kriminelle Reiseagentur: Der eine ist für die Akquise von Flüchtlingen zuständig, ein anderer treibt das Geld ein, der nächste kümmert sich um die Transportmittel, ein weiterer sorgt für Ordnung und so fort. In der Türkei haben wir etwa ein Netzwerk kennengelernt, bei dem die Arbeitskette für eine Schleuseraktion aus 40 bis 60 Personen besteht! Überraschend war, wie gut die Kooperation innerhalb dieser Netzwerke funktioniert: Da herrscht gegenseitiges Vertrauen, man hält sein Wort.