Rudolf Bauer und Martina Pfauth kennen sich seit ihrer Kindheit. Nun haben sich der 50-jährige Mann mit Down-Syndrom und die 48-jährige Frau mit geistiger Behinderung einen Traum erfüllt: Sie haben geheiratet.


Das Hochzeitspaar am Tag der Trauung. Foto:Lichtgut/Achim Zweygarth

 

Stuttgart - Rudolf Bauer trägt trotz beinahe 40 Grad im Schatten eine lange, schwarze Hose. Sein türkisfarbenes Hemd hat er korrekt bis ganz oben zugeknöpft und eine dunkelblaue Krawatte umgebunden. An diesem heißen Samstagnachmittag steht der 50-jährige Mann mit Down-Syndrom im Garten der Wohnanlage am Probstsee in Möhringen, einer Einrichtung des Vereins Lebenshilfe Stuttgart – und wartet. Immer wieder schaut er hinüber zum Eingang des Helmut-Kraft-Hauses, in dem er seit einigen Jahren lebt, runzelt die Stirn, stemmt beide Hände in die Hüften. Rudolf Bauer seufzt laut. Aufgeregt? „Kein bisschen aufgeregt“, versichert er und schaut wieder in Richtung Tür – dorthin, wo jede Minute seine Braut Martina Pfauth herauskommen müsste.

„Der Rudi hat schon immer ein Auge auf die Martina gehabt“, sagt Rudolf Bauers zukünftige Schwiegermutter Inge Pfauth. „Die zwei kennen sich seit dem Kindergarten.“ Später haben beide die örtliche Bodelschwinghschule für Menschen mit geistiger Behinderung besucht. In der Wohnanlage der Lebenshilfe Stuttgart leben sie seit vielen Jahren – zunächst in getrennten Zimmern, seit rund zwei Jahren in einer gemeinsamen Wohnung im Erdgeschoss gleich bei der Eingangstür. „Jetzt kommt sie gleich“, sagt Inge Pfauth zu ihrem Schwiegersohn. Rudolf Bauer wartet.

Derweil trudeln nach und nach die festlich gekleideten Gäste ein. Um die 130 Leute sind geladen – Familienangehörige und Freunde, ehemalige Lehrer, Mitbewohner und Nachbarn aus der Wohnanlage. Sie stehen im Schatten der Obstbäume, plaudern oder tragen Bleche voll Kuchen in den Keller, wo es noch einigermaßen kühl ist. In fünf aufblasbaren, mit Eis gefüllten Kinderpools liegen gekühlte Getränke.

Die erste Hochzeit in der Geschichte des Hauses

Stefanie Krämer, die Leiterin des Helmut-Kraft-Hauses, ist voll eingespannt im Festbetrieb und dennoch bester Laune. „Wir machen alles so, wie es sich für eine Hochzeit gehört“, sagt sie, „mit Brautstrauß werfen und so.“ Eine traditionelle Zeremonie also – und doch sei die Hochzeit von Martina und Rudolf etwas ganz Besonderes, sagt Krämer. „Soweit ich weiß, ist das die erste Heirat von zwei Bewohnern in der 55-jährigen Geschichte der Lebenshilfe.“

Menschen mit geistiger Behinderung haben grundsätzlich das Recht zu heiraten wie jeder andere auch. Allerdings darf sich der Standesbeamte in der Praxis davon überzeugen, dass die Partner ehefähig sind, also eine Vorstellung davon haben, dass sie mit der Ehe auch eine Beziehung mit Rechten und Pflichten eingehen. Im Falle von Martina Pfauth und Rudolf Bauer habe der Standesbeamte Zweifel an der Ehegeschäftsfähigkeit der beiden seit Jahrzehnten Verliebten gehabt, so formuliert es Eva Schackmann, die beim Verein Lebenshilfe Stuttgart für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Aus der standesamtlichen Trauung wurde also nichts.

Ein Glück, dass der Prediger Jochen Klein von der Freikirche Vaihingen die Sache etwas anders sieht. Er kennt Martina Pfauth und Rudolf Bauer gut. Seine Kirche und die Lebenshilfe kooperieren seit Jahren, einmal im Monat feiern die Gemeindemitglieder in der Wohnanlage am Probstsee ihren Gottesdienst mit den Bewohnern, die das möchten. „Wir haben uns aufeinander eingespielt und keinerlei Berührungsängste mehr“, sagt Klein, der – Hitze hin oder her – dem feierlichen Anlass entsprechend im dunklen Anzug erschienen ist. Dass Martina Pfauth und Rudolf Bauer ihre Partnerschaft offiziell kundtun wollen, findet der Mann mit dem Vollbart völlig okay, weshalb er auch sofort bereit war, die Trauung zu vollziehen. „Das ist schon überlegt und keine Farce“, sagt Klein. Es gebe zwar durchaus Fälle, wo Zweifel angebracht seien – „hier aber habe ich keine Bedenken, auch wenn man natürlich in niemanden hineinschauen kann“. Dann geht Jochen Klein hinüber zum Rednerpult, vor dem zwei Stühle auf das Brautpaar warten. Der Countdown läuft.

Eine echte Liebeshochzeit

Auch Holger Brambach steht hinter der Eheschließung. „Das ist eine echte Liebeshochzeit“, sagt der Fachbereichsleiter für Stationäres Wohnen bei der Lebenshilfe voller Überzeugung. Partnerschaften gebe es in den Einrichtungen des Vereins immer wieder, auch sehr langlebige. Martina Pfauth und Rudolf Bauer aber seien das erste Paar, das den Wunsch nach einer Heirat offen geäußert habe und dabei geblieben sei. Auch Menschen mit geistiger Behinderung hätten den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben, sagt Brambach. „Ich finde es schön, dass nach so vielen Jahren der Wunsch nach einer Ehe kam.“ Natürlich gebe es „die Gefahr, dass es schiefläuft“ – aber das sei schließlich bei jedem anderen Paar auch der Fall. „Ich dachte zuerst, wir müssten vielleicht Überzeugungsarbeit bei den Familien leisten, aber alle waren sehr offen“, sagt Holger Brambach.

Rudolf Bauer hält unterdessen weiter Ausschau nach seiner Braut. Auf dem Tisch neben ihm stehen zwei Schächtelchen mit Blumenmuster und Schleife obenauf – die Hochzeitsringe. Doch wo bleibt Martina? Auf dem Hochzeitstisch wird es langsam eng. Sektflaschen, in knisterndes Cellophan gehüllt, dazwischen kleine und große, farbenfroh verpackte Geschenke und mehrere gut gefüllte Körbe mit Leckereien. Keine Frage: der Vorratsschrank des Brautpaars ist bald gut gefüllt.

Plötzlich ertönt Richard Wagners Hochzeitsmarsch. Die Gäste stehen auf. Sie kommt! In einer weißen Marlene-Hose und farblich passendem Oberteil mit Spitzeneinsatz. „Mit Kleidern hatte sie’s noch nie so“, sagt Martina Pfauths Mutter. Im kurzen Haar trägt die Braut ein Band mit Spitzen und Perlen, um ihren Hals baumelt eine Kette mit Herzanhänger. Ein Strauß aus roten Rosen, Frauenmantel und Margeriten leuchtet in Martinas Händen. Die 48-Jährige lächelt schüchtern angesichts der großen Festgemeinde. Alles so, wie es sich für eine Hochzeit gehört.

„Gott ist hier wirklich anwesend“

Dann ist Jochen Klein an der Reihe. Er vertritt an diesem Nachmittag den Pastor, der im Urlaub ist. „Gott ist wirklich hier anwesend“, versichert der Laienprediger, dem der Schweiß auf der Stirn steht. Er erzählt von Jesus, dem Schreiner. „Ich bin auch bei der Schreinertruppe“, ruft ein Bewohner der Lebenshilfe stolz dazwischen. Jochen Klein lässt sich nicht beirren und spricht weiter, sagt, dass es wohl nicht nur Sonnentage geben werde im Eheleben, und gratuliert Martina Pfauth und Rudolf Bauer zu ihrem Mut. Die beiden sitzen nebeneinander, ab und zu schauen sie sich an, lächeln, zwinkern sich zu. Auch nach dem Fest werden sie viel zu tun haben: Ein Urlaub am Bodensee steht an, danach ziehen die frisch Vermählten in eine größere Wohnung in Weilimdorf, welche die Lebenshilfe an sie vermietet. Und ihren Job müssen sie natürlich auch machen. Martina Pfauth arbeitet in einer Hauswirtschaftsgruppe der Lebenshilfe, Rudolf Bauer stellt in den Lebenshilfe-Werkstätten Kräuter-Rigatoni und bunte Spirelli-Nudeln her.

Jochen Klein ist mit seiner Traupredigt fertig. „Steht bitte auf – Liebe Martina, wenn du den Rudi heiraten willst, dann antworte mit Ja.“ Die Braut haucht: „Ja.“ Und der Bräutigam ruft laut: „Ja, ich will.“ Martina steckt Rudi einen schlichten Ehering an die linke Hand, Rudi schiebt das Gegenstück auf Martinas Finger. „Hiermit erkläre ich euch zum Ehepaar vor dem Angesicht Gottes“, schließt Jochen Klein die Zeremonie. Die Gäste applaudieren, Freudenpfiffe ertönen. Martina hat rote Backen. Endlich hat er sich erfüllt, der Wunsch, den sie und Rudolf schon so lange mit sich herumgetragen, aber aus Angst vor der Reaktion der anderen bis vor Kurzem für sich behalten haben.

Der Kuss

Doch halt – da fehlt noch etwas! Jochen Klein beugt sich zum Brautpaar und raunt den beiden nur ein Wort zu: „küssen“. Schon passiert. Als Jochen Klein den Segen erteilt, ruht Martinas linke Hand auf der Schulter ihres Mannes. Ihr Ehering blitzt in der Sonne. Nach dem Schlusssegen, zu dem sich die Festgemeinde erhebt, stehen Martina Pfauth und Rudolf Bauer Hand in Hand vor dem improvisierten Altar. Die Gäste zücken ihre Kameras und schießen Erinnerungsfotos. „Jetzt darf Rudi etwas sagen“, verkündet Jochen Klein. Rudolf Bauer blickt in die Runde, zögert kurz: „Schön, dass ihr gekommen seid“, sagt er, „Die Theke ist nun geöffnet.“