Auf dem Eiermann-Areal in Stuttgart-Vaihingen verbindet das Theater Rampe die deutsche Erstaufführung von Sibylle Bergs „How to sell a Murder House“ mit der Geschichte eines leerstehenden Industriegebäudes.

Stuttgart - Ein Auto bremst im Hof. Zwei Menschen rennen dem Eingang entgegen, ein Mann, eine Frau. In den Straßen tobt der Bürgerkrieg. Weit draußen vor der Stadt führt die Maklerin den Flüchtling durch ein Haus, in dem Tote umgehen. „Überlegen Sie es sich gut“, sagt sie. „Hier könnten Sie in Sicherheit sein, hier zweifelt keiner Ihr Existenzrecht an in dieser Zeit, in der nur überlebt, wer überlebt.“

 

Die Maklerin verwandelt sich in einen Vogel, einen Waldrapp, treibt den Mann mit ihren animalischen Schreien durch das Haus, zu den Gespenstern. Sibylle Bergs „How to sell a Murder House“ feierte im Herbst 2015 in Zürich Premiere; das Stuttgarter Theater Rampe hat das Stück nun zum ersten Mal in Deutschland inszeniert. Bergs namenloser Mann flieht vor einer Gesellschaft, in der die Frauen die Macht zu übernehmen scheinen; sein Refugium ist eine Villa im Schweizer Jura. In Stuttgart dagegen irrt er umher im Eiermann-Campus. Der befindet sich im Wald, zwischen Vaihingen und dem Autobahnkreuz Stuttgart: Die ehemalige Unternehmenszentrale der IBM steht seit acht Jahren leer - ein Areal von 195 000 Quadratmetern, auf dem einst 3800 Menschen arbeiteten.

Egon Eiermann prägte als Architekt die Stuttgarter Nachkriegszeit

Die Anlage verdankt ihren Namen den Architekten und Designer Egon Eiermann. Er prägte als Architekt die Nachkriegszeit; er war auch verantwortlich für den Neubau des Kaufhauses Schocken 1960 in der Stuttgarter Mitte. Im Oktober 2015 kaufte die Düsseldorfer Gerchgroup das Eiermann-Areal auf, der nämliche Investor, von dem die Stadt Stuttgart zur selben Zeit nach langem Ringen die Villa Berg zurück erwarb. Die Gruppe plant, das Gelände in eine „Smart-City“ umzuwandeln, in den „Garden Campus Vaihingen“. Manch einer hofft auf ein neues, grünes Stadtquartier, aber es gibt auch Skeptiker, nicht nur im Bezirksbeirat.

Das Theater Rampe durfte sein Projekt sechs Wochen lang im Rahmen einer kulturellen Zwischennutzung mietfrei auf dem Campus vorbereiten. Nun, bei der Premiere von „How to sell a Murder House“ folgen 90 Zuschauer den Schauspielern und Tänzern hinein in das Labyrinth der Architektur- und Industriegeschichte. Die Gänsehaut bleibt dort nicht aus.

Erzählt wird auch die Geschichte der IBM

Die Rampe erzählt, parallel zu Sibylle Bergs Szenen, auch eine andere Geschichte: Die der IBM, die als erstes Unternehmen eine Gleichstellung von Frauen durchsetzte, sich gegen die Diskriminierung von ethnischen, religiösen, sexuellen Minderheiten stellte, keine Mitarbeiter entlassen wollte. Ein bisschen Wehmut geht also ebenfalls um in diesen Räumen, Gängen, in den mit Teppich ausgelegten Speisesälen, in denen die Schauspieler in einer Reihe auf und ab hüpfen, knien, liegen, immer gemeinsam in Bewegung sind.

Gemeinsam mit der freien Tanzgruppe backsteinhaus produktion hat die Rampe ihr „getanztes Immobilienportfolio“ entwickelt. Acht Darsteller agieren, vier Tänzer, vier Schauspieler; die Grenzen werden durchlässig. Marie Bues und Nicki Liszta führten gemeinsam Regie und entwickelten die Choreographie. Ausstatterin Claudia Irro hat nur geringfügig eingegriffen, ins entleerte IBM-Ambiente: Da hängt eine Hirschtrophäe an der Wand, da ist ein leeres Büro zum Schlagzimmer verwandelt. Musik von Kat Kaufmann geistert ebenfalls umher.

Vorträge zur Unternehmenskultur, Songs aus dem IBM-Liederbuch

Und hinaus geht es, in die kalte Nacht, vorbei am See, hinter dem ein Transparent hängt, auf dem das IBM-Motto „Think“ geschrieben steht. Viele Fenster in den großen, dunklen Gebäudekomplexen sind erleuchtet; Menschen sprinten hastig über Balkone, stürzen sich in die Tiefe. In leeren Arbeitsräumen hört man Vorträge zur Unternehmenskultur, reicht sich die Hände und tanzt zu Liedern aus dem IBM-Liederbuch. Gegenüber, im Sanitärraum, presst sich eine Frau im roten Business-Kostüm an die Wand und singt stattdessen Lieder aus Franz Schuberts „Winterreise“.

Die Tänzer bewegen sich zuckend durch die Gänge, erstarren in unmöglichen, dämonischen Posen, gefrieren am Kaffeeautomaten; Alarmsirenen schrillen. In einem Raum liegt, geschlagen, der Mann, der sich eine Frau im Internet bestellte und nicht bekam, was er wünschte; in der Küche hängt ein anderer, der Transhumane, in Schläuchen und Drähten, will sich mithilfe einer Frau ins Netz einspeisen. Das Ensemble tanzt auf den Balken des Treppenhauses, geht wundersam umher zwischen den Zuschauern. Und schließlich, nach zwei Stunden, finden alle sich dort wieder, wo die Erkundung begann, irritiert, erstaunt. Der Applaus dauert an. Will man leben, will man Zuflucht suchen in einem Mörderhaus? Zumindest wird man in dieser Nacht vom Vaihinger Eiermann-Campus träumen.