Die Berliner Kulturpolitik präsentiert ihren neuen Theaterchef Chris Dercon. Der will an der Volksbühne künftig die unterschiedlichen Kunstformen Tanz, Film und Theater vereinen.

Stuttgart - Eigentlich könnte es eine vielversprechende Nachricht sein, das Stadtgespräch, und eigentlich sollte Chris Dercon am Freitagmittag strahlend im Roten Rathaus sitzen. Schließlich wird hier gerade verkündet, dass der jetzige Chef der Tate Modern ab 2017 die Intendanz der Berliner Volksbühne übernehmen wird – eine große Kulturentscheidung nach 25 Jahren, die Frank Castorf geprägt haben wird. Stattdessen setzt Dercon seine ersten Worte in einer Mischung aus Verteidigung und schützender Arroganz. Der Saal ist voller als beim Rücktritt Klaus Wowereits, die halbe Berliner Theaterszene hat Vertreter geschickt, man will nach Wochen des Schweigens endlich wissen, wie es weitergeht. „Ich habe einen Crashkurs von Meinungen bekommen“, sagt Dercon über die Wochen des Theaterstreits. „Aber Rene Pollesch hat mir gesagt, dieser Theaterdonner gehe auch vorbei.“

 

Man ist gar nicht sicher, ob er das gerne hätte. Denn während Dercon nun versucht zu erklären, was er in der Zukunft vorhat, konstatiert er: „Der Krach an der Volksbühne dauert schon hundert Jahre. Und das war eine Herausforderung, zu der ich nicht nein sagen konnte und wollte.“ Nun hat er einen Plan für das Theater, der noch in vielem unfertig ist, aber eine große, wegweisende Überschrift trägt: „Kollaboration als Modell“. Dercon will zu dieser Zusammenarbeit ein fünfköpfiges Künstlerteam aus unterschiedlichen Ländern, Generationen und Disziplinen nach Berlin holen, darunter den französischen Tänzer und Choreograf Boris Charmatz, den Filmregisseur Romuald Karmakar, den Filmemacher Alexander Kluge, die Theaterregisseurin Susanne Kennedy und die dänische Choreografin Mette Ingvartsen. Zu den bisherigen Spielorten am Rosa-Luxemburg Platz und dem Prater soll zeitweise ein Hangar auf dem Flughafen Tempelhof kommen sowie das Kino Babylon und eine digitale Bühne im Internet, die sich Dercon als „Globe Theatre des 21. Jahrhunderts“ denkt. Es gehe ihm um die zeitliche und räumliche Auflösung theatraler Räume, so Dercon. „Die Volksbühne hat immer die Stadt als Bühne mitinszeniert“, sagt er. Dies sei, was ihn interessiere.

Monatelanger Streit

Zuvor hatte der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller, ebenfalls im Tone einer Rechtfertigung, erklärt, er freue sich auf eine „sicher hervorragende, spektakuläre Zusammenarbeit“, die Berlin in seinem künstlerischen Anspruch, sich zu verändern, bereichern werde. Es gehe nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen, so Müller. Aber Berlin sei die europäische Metropole, der Leuchtturm, „hier wird ausprobiert, gewagt, hier hat man Mut“ – dies sei der kulturpolitische Anspruch. „Wir wollen doch nicht irgendwie dabeisein in der bundesdeutschen Kultur- und Theaterlandschaft.“

Und auf die Frage, ob es vielleicht ein Fehler war, wochenlang nichts zu sagen und niemanden in die Entscheidung einzubinden, erklärte Müller, er frage sich, woher der Gedanke komme, dass man eine Findungskommission brauche. „Kommissionen braucht man, wenn man keine Ideen hat.“ Intendantenfragen würden nicht in Gremien entschieden. Dieses politische Agieren der Beteiligten führte wohl dazu, dass Dercon Skepsis entgegenschlug, noch bevor er Gelegenheit hatte, einen Ton zu sagen. Allein die Art und Weise, wie die so wichtige Intendantenentscheidung am Donnerstag verkündet worden war, erzählt etwas über die Sicht der Verantwortlichen auf die Stadt: wir entscheiden, weil wir wissen, was gut ist. Und teilen euch dann frei nach Wilhelm Busch „das Nötige mit“. Am Donnerstag saß Müller in der Parlamentssitzung und studierte Schriftstücke. Bis in der Aktuellen Stunde der kulturpolitische Sprecher der Linkspartei mit Furor fragte, was der Ressortchef denn zu sagen habe zu dem seit Wochen tobenden Theaterstreit.

Statt dem Was wurde über das Wie geredet

Müller formulierte im Visionärssprech etwas von der hervorragenden Kulturlandschaft, die weiterentwickelt werden müsse. Und sagte, als müsse das allen längst bekannt sein: „Ich freue mich darauf, dass Chris Dercon 2017 nach Berlin kommt.“ Kurze Zeit später wurde dann die Einladung zu der freitäglichen Pressekonferenz verschickt. So kann man ein Parlament, seinen Kulturausschuss, den Kulturbetrieb auch missachten.

Der ganze Vorgang ist vor allem deshalb so traurig, weil lange das Wie diskutiert wurde, nicht das Was. Statt für die Idee zu werben, statt die Sicht derer, die Kultur machen, einzubeziehen, statt eine Debatte zu entwickeln, wird allen etwas vorgesetzt.

Politisch ist nicht nur die Entscheidung, sondern auch ihr Habitus von Bedeutung, denn es handelt sich um den ersten wirklich Akzent Müllers auf dem Feld der Kultur, die als Rückgrat der Stadt verstanden wird. Seit Jahren hat die Stadt keinen eigenen Kultursenator mehr – der Job wird vom Regierenden erledigt. Dass Klaus Wowereit das seinerzeit so entschied, lag weniger an Hybris, sondern an der Verfassung, die die Zahl der Senatoren auf acht begrenzte (was inzwischen geändert wurde, aber erst nach der nächsten Wahl greift). An Wowereits Seite agierte als Staatssekretär der kompetente Ex-Senatskanzleichef Andre Schmitz. Als er wegen eines Steuervergehens zurücktreten musste, wählte Wowereit Tim Renner. Die Personalie war umstritten. Würde jemand wie Renner, von Haus aus Musikmanager, Seiteneinsteiger in Hochkultur und Verwaltung, mitten in der Legislatur Akzente setzen können? Dann trat Wowereit zurück.

Fedrige Wortwolken

Und vom neuen Kulturteam Müller und Renner hat man bisher nicht viel mehr gehört als fedrige Wortwolken, so wie die Äußerung Renners, er wolle am Rosa-Luxemburg-Platz ein „Labor für Europa“ oder Müllers Plan einer Berlin-Nabelschau im Humboldt-Forum mit dem Titel „Welt.Stadt.Berlin“.

Seit nun das Gerücht um Castorfs vorzeitige Abberufung und die Berufung Dercons aufgekommen war, befand sich die Kulturszene in Aufruhr, und Müller schwieg, während Renner beschossen wurde. Castorf schimpfte über „fehlende Theaterkenntnis“. Claus Peymann, zweites Urgestein, dessen Vertrag ebenfalls 2017 ausläuft, nannte Renner die „größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts“ und warf ihm vor, die „einst so ruhmreiche Volksbühne zum soundsovielten Eventschuppen der Stadt“ zu machen. Von beleidigten alten Herren wurde dann geredet und von dem jungen „leeren weißen Hemd“ – nur miteinander redete niemand. Stattdessen drohte Thomas Ostermeier von der Schaubühne mit Weggang, es gab einen offenen Brief der drei Intendanten Joachim Lux (Thalia Hamburg), Ulrich Khuon (DT), und Martin Kusej (Residenztheater München), in dem sie Renner vorwerfen, Kulturpolitik mit der Abrissbirne zu betreiben, der Staatsopernchef Jürgen Flimm bat die Kulturverwaltung, sich „zu besinnen“. Der Rat für die Künste schickte kürzlich den nächsten offenen Brief – diesmal, weil Müllers Finanzchef erklärte, die Spielräume in der Kultur seien durch die Staatsopernbaustelle „mehr als verbraucht“.

Das wird nun eine der spannenden Fragen sein, die Dercon bis zu seinem Start zu klären haben wird: Was darf sein ehrgeiziges Projekt für Berlin kosten, an welchen Knöchelchen im kulturellen Rückgrat der Stadt wird es dafür furchtbar wehtun, und wer definiert auf dieser Grundlage den kulturpolitischen Anspruch, den Berlin als Leuchtturm hat und braucht?