Die Stuttgarter Chor- und Orchesterlandschaft befindet sich im Wandel, und wie der Wandel ausschauen wird, ist beim Musikfest der Bachakademie schon ansatzweise deutlich geworden.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - E

 

ine der berühmtesten Visitenkarten der Weltliteratur überreicht der Münchner Hopfenhändler Alois Permaneder dem Personal im Hause Buddenbrook, als er die Konsulin zu sprechen sucht. Auf dem „Kartl“ steht „Noppe & Comp.“, wobei Noppe und das „&“-Zeichen durchgestrichen sind. Permaneder, der Kompagnon (mehr ist er nicht und will’s nicht sein), firmiert unter dem schütteren Abkürzungsrest, was nicht nur leichte Irritationen vor der stotternden Brautwerbung auslöst, sondern sich insgesamt als Menetekel herausstellen soll. Es debütiert hier in der für ihn eindeutig zu großen und ja auch noch norddeutschen Welt ein per se reduziert denkender Mensch.

Man muss an die Szene denken, wenn man den Pressemitteilungssatz der Bachakademie liest, demnach die Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann mit dem Händel-Abschlusskonzert (siehe unten) „die perfekte Visitenkarte“ abgegeben hätte. Perfekt. Und, ja, sicher – da stand, sozusagen in komplett antipermanederschem Duktus, jede Menge drauf: neuer Originalklang, neue Besetzungen, neue Orgel, neuer Schwung, neue Welt. Jetzt auch mit dem Weltmann Händel. Und dann noch: Internationale Bachakademie. Weiterhin in der Bilanz: 43 Veranstaltungen, 71 Prozent Auslastung, 13 000 Besucher. Das ist sehr ordentlich für ein reformiertes Unternehmen.

Mehr als Internationale Bachakademie beziehungsweise eine andere Internationale Bachakademie zu sein als die nun mal ehemals von Helmuth Rilling durch und durch geprägte, ist seit 2013 das gemeinsame Anliegen von Intendanz (Gernot Rehrl) und künstlerischer Leitung (Hans-Christoph Rademann) gewesen.

Es ist diese Umstrukturierung aber nicht die einzige hierzulande: Ende des Monats präsentiert sich das SWR Symphonieorchester nach der Fusion. Vorerst ohne festen Leiter, aber ebenfalls umgemodelt und wahrscheinlich ebenso deutlich über die baden-württembergischen Landesgrenzen hinaus orientiert. Was braucht es dazu? Globalem Musikindustriemarketing zufolge muss die Marke eindeutig definiert sein. Das ist jetzt bei der Bachakademie unbedingt der Fall. Die Gaechinger Cantorey stellt sich dar als Originalklangensemble, wozu es keine Umkehrlösung gibt. Damit lässt sich nicht jedes Repertoire angehen, aber, wie es folgerichtig heißt, Kernkompetenz zeigen.

Auch das ist in beeindruckendem Maße passiert. Erst mit Claudio Monteverdis „Marienvesper“, dann mit den sehr geschickt zum Festivalthema Reichtum ausgewählten Werken des Namenpatrons, schließlich mit Georg Friedrich Händel, dessen Interpretation – trotz Monteverdis Katholizität – vielleicht das wirklich Exzentrische (und jedenfalls das Opulenteste) gewesen ist während dieser elf Tage.

Ausverkauft waren, und da wird es nun wirklich richtig interessant, gleichwohl nicht das Auftakt- und das Schlusskonzert, sondern regelmäßig die, sagen wir, Klassiker: Gesprächskonzerte, Erklärveranstaltungen, Kunstführungen in der Staatsgalerie. Auch die Vorstellung des neuen Orchesters im Hospitalhof, wo man etwas erfuhr über das Dahinter und Warum und Weshalb der neuen Orientierung, fand viele Interessierte, naturgemäß ältere Afficionados, was zur zentralen Frage der ganzen, mit viel Verve betriebenen Angelegenheit führt: Wie lange wird man sich auf diesen treuen, mitgehbereiten und – nicht gering zu schätzen! – kompetenten Kreis noch verlassen können?

Außergewöhnlich viel Nachwuchs jedenfalls ist im Auditorium nicht zu sehen gewesen. „Bach bewegt“? Zumindest heißt so die Tanzveranstaltung, annonciert für den März 2017, während der junge Schüler sich motorisch verhalten können sollen zur „Matthäuspassion“. Das ist gut, allemal ein Ansatz, aber bestimmt nur ein Punkt bei der Arbeit an einem Problem, das ganz allgemein im theatralischen Bereich Nachwuchsförderung heißt. Weit über die Szene der klassischen Musikpflege hinaus bleibt sie in der Kunst schwierig. Da es keine Dirigierkurse mehr gibt, die früher sehr viele junge Leute angezogen haben, müssen Ersatzlösungen her, wobei alles ausprobiert gehörte. Am Wochenende zum Beispiel war auf dem Jazzfest in Esslingen der junge englische Multiinstrumentalist Jacob Collier zu Gast, der in einem klassischen Geigerinnenhaushalt mit Bach aufgewachsen ist. Er praktiziert mit neuesten Mitteln das, was Händel (unter anderen) als Ruf-und-Antwort-Spiel inszenierte (in „L’Allegro . . .“ mit dem fabelhaften Georges Barthel an der Traversflöte). Da ließen sich ein paar Parallelen oder Schrägen ziehen. Auf dem festen Fundament der Bachakademie.

Man könne, hatte der sehr reflektierte Unternehmer Johannes Kärcher unter der Woche zu bedenken gegeben, als er die Differenz zwischen dem (überbordenden) Reichtum hierzulande und der Armut in vielerlei Hinsicht analysierte, gerade in Zukunft nicht erwarten, dass einem der Rotz immer nur den Backen rauflaufe, und wo er recht hat, hat er recht. Das gilt, trotz sehr schmuckvoller neuer Visitenkarte, auch für die Bachakademie.