Die Künstlerin Ulrike Böhme zeigt im Gebäude des Bundesnachrichtendienstes Fotos von hundert Menschen. Sie alle haben ein Geheimnis notiert und einem Notar ausgehändigt. Gelüftet wird es erst in hundert Jahren.

Berlin/Hohenstein - Wenige Behörden werden derzeit so misstrauisch beäugt wie die Nachrichtendienste. Allen voran der deutsche BND, über den jetzt bekannt wurde, dass er jahrelang Telefondaten an die amerikanische NSA weitergegeben hat.

 

Davon wusste man im Januar noch nichts, als Ulrike Böhme Briefe verschickte mit dem Wunsch „Ich bitte Sie um ein Geheimnis“. Im zweiten Satz erklärte sie dann, worum es geht: Um ein Kunst-am-Bau-Projekt für Schule und Internat des Bundesnachrichtendienstes in Berlin. Manchen der Adressaten – alle aus dem breiten beruflichen und persönlichen Umfeld der Künstlerin – war dies suspekt, den meisten aber leuchtete die Idee ein. Denn in den Schulen der Nachrichtendienste werden Menschen ausgebildet, die sich später schwerpunktmäßig mit dem Auffinden und der Aufklärung von Geheimem befassen. Gerade diesem Ort Geheimnisse zu implantieren, die nicht aufgeklärt werden können, jedenfalls nicht während unserer Lebenszeit, das war die Idee.

Böhme reichte zu dem Einladungswettbewerb ihren Entwurf ein, den sie „In den Köpfen – Geheimnisse für 100 Jahre“ nannte und so beschrieb: „In den Eingangsbereichen von Schule und Internat werden jeweils hundert überdimensionierte Passbilder gehängt, die hundert verschiedene Personen mit Geheimnissen zeigen. Im Rahmen des Projektes notieren diese Menschen ihr persönliches Geheimnis und lassen es notariell verwahren. Erst nach Ablauf von hundert Jahren wird das Geheimnis preisgegeben. An einer Anzeigentafel wird jeweils dargestellt, für wie viele weitere Jahre das Kunstwerk sein Geheimnis wahren wird.“

Ulrike Böhme gewann den Wettbewerb. „Das Projekt regt in faszinierender Weise zum Nachdenken über die Frage der Bedeutsamkeit von persönlichen Geheimnissen und dem Konflikt zwischen dem Schutz der Privatsphäre einerseits und einem öffentlichen Interesse an der Aufdeckung von bedrohlichen Geheimnissen andererseits an.“ So die Jury.

Natürlich sei ihr bewusst, dass alles, was wir im Internet von uns geben, gespeichert werde, sagt die Künstlerin. Dennoch ist sie davon überzeugt: der BND weiß nicht alles. Ihr Kunstwerk soll den Nachrichtendiensten auch einen Spiegel vorhalten: Seht her, ihr seid nicht allmächtig, es gibt noch ein Leben außerhalb des transparenten Internets.

Verfassungsrechtlich überprüft

Vor der Ausführung des Werks wurde Böhme verfassungsrechtlich überprüft, man wollte sichergehen, dass sich da keine Spionin einschleicht. Die Namen der beteiligten Geheimnisträger werden allerdings niemals irgendwo (höchstens auf eigenen Wunsch hin) genannt.

Ulrike Böhme hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine ganze Reihe von besonderen Kunstwerken im öffentlichen Raum realisiert oder, wie es der Karlsruher Kunstprofessor Beat Wyss formuliert: „Sie ist eine Macherin, die uns zusammenbringt, um Orte ins Gedächtnis zu rufen, an denen wir ohne ihr Dazutun nur Alltäglichkeit feststellten. Ihr Eingriff aber verwandelt das gewöhnlich Zuhandene in die Poesie öffentlich geteilter Erfahrung.“

Zugute kommt ihr die zweifache Ausbildung: erst Studium der Architektur an der TU Berlin mit mehrjähriger Tätigkeit in verschiedenen Architekturbüros, dann das Studium der freien Malerei an der Stuttgarter Kunstakademie bei den Professoren Arnold und Sonderborg. Sie könne Pläne lesen und habe keine Scheu vor dem Prozess der Entstehung eines Gebäudes, sagt Ulrike Böhme. Und gerade der Versuch, sich im Malereistudium vom Angewandten zu entfernen, habe ihr gezeigt, welches Potenzial die kontextuelle Kunst berge: „Es ist ein Schatz, der mich beflügelt.“

Selten sind ihre Werke mobil wie die Stelen mit verbrannten Materialien, die sie für eine Gebäudebrandversicherung erdacht hat. Oder der „Hohensteintisch“, der mit seinen zwölf Stühlen jedes Jahr das Zentrum eines Festes bildet und dann als Gastgeschenk in den Nachbarort transportiert wird – als verbindendes Ritual und Zeichen für die fünf Dörfer, die unter dem Namen Hohenstein zusammengeschlossen wurden. In dieser Gemeinschaft auf der Schwäbischen Alb hat sie ihr Atelier.

Das Deutsche Historische Museum hütet die Geheminissse

Die meisten ihrer Arbeiten sind stationär, oft nicht einmal mehr sichtbar, wie die zu den Grundsteinlegungen von Kunstmuseum und neuer Stadtbibliothek in Stuttgart. Ein mit Erinnerungsstücken von Bürgern gefüllter Kubus die eine, mit einer symbolischen weißen „Seite 1“ aus Marmorsand die andere. Manchmal bleibt nur ein Rest, so die ungewöhnliche Verteilung internationaler Städtenamen, die in der Tiefgarage an der Straßenbahn-Endhaltestelle in Gerlingen bis heute auf die Geburtsorte der am Bau Beteiligten verweisen.

Ein großes Projekt war im vergangenen Sommer die gemeinsam mit der Komponistin Susanne Hinkelbein konzipierte Kunstbiennale „Interim“ im Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Diese kunstvolle, theatralische Belebung eines weitgehend ungenutzten Militärareals hat weit über die Region hinaus beeindruckt.

Und jetzt die hundertjährigen Geheimnisse beim Bundesnachrichtendienst. „Ein wesentlicher Aspekt dieser Idee ist die Unplanbarkeit in diesem großen Zeitraum“, hat Ulrike Böhme in ihrem Konzept an die Interessierten mitgeteilt und diese gleichermaßen beruhigt wie inspiriert. Der Satz steht auch am Ende einer siebenseitigen „Vereinbarung über die Verwahrung eines Geheimnisses zum Zweck der Durchführung einer Ausstellung (Geheimnisvertrag)“. Das klingt nach Juristendeutsch. Ist es auch. Wenn man hundert Menschen für hundert Jahre Geheimniswahrung verspricht, muss das hundertprozentig sicher sein. Das Urheberrecht aber gilt nur 70 Jahre. Und so waren clevere Anwälte gefragt: Die Berliner Kanzlei Raue, erprobt in den schwierigen Fällen von Cornelius Gurlitt und Ai Weiwei, nahm sich der Sache an. Jetzt ist alles juristisch wasserdicht.

Gleichzeitig musste noch eine Institution des öffentlichen Rechts gefunden werden, die in hundert Jahren mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit noch existieren würde: Der Wunschkandidat, das Deutsche Historische Museum, sagte zu.

Spannend war das Prozedere. Würden überhaupt hundert Menschen mitmachen? Sich der Auseinandersetzung mit sich selbst stellen? Am Ende vielleicht doch zurückschrecken, Geheimes preiszugeben, auch wenn es keine Leiche im Keller ist? Und das Geheimnis dann hoffentlich auch ein Leben lang für sich behalten? Das muss sich noch zeigen.

Die Öffentlichkeit darf die Ausstellung nicht sehen

Tatsächlich antworteten hundert Personen, die einen ziemlich repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden: von Kindern bis Rentnern, von Landwirten bis Politikern, vielleicht relativ viel Architekten, Künstler, Schauspieler und Journalisten.

Sie alle erhielten einen Umschlag, zwei Bögen holzfreies Papier und einen nicht ausbleichenden Stift, um ihr persönliches Geheimnis zu notieren. Alle nahmen es sehr ernst, machten sich intensive Gedanken, verwarfen, änderten, schrieben meistens erst kurz, bevor Ulrike Böhme kam, um die Fotografien – von hinten und von vorn mit geschlossenen Augen für die Ausstellung – und mit geöffneten Augen für die Verwahrung aufzunehmen, den Vertrag durchzugehen und zu unterschreiben, in einem geradezu rituellen Akt den Umschlag gemeinsam zu versiegeln, mit einem Code zu versehen und dann als Einschreiben an die Anwaltskanzlei zu senden. Dort werden sie nun gesammelt und zusammen mit den Verwahr-Fotos in einer versiegelten Kiste ans Deutsche Historische Museum übergeben.

Die anderen Porträts werden im Oktober aufgehängt, die hundert Fotos der Hinterköpfe en bloc, die Konterfeis mit geschlossenen Augen in losen Einzelgruppen. Die Öffentlichkeit darf die Ausstellung nicht sehen.

„100 Jahre sind in der Weltgeschichte ein winziger Zeitabschnitt. Für uns ist es ein nicht verhandelbarer Zeitraum“, sagte Ulrike Böhme. „Dennoch können wir uns ausmalen, wie spannend es wäre zu erfahren, was Menschen vor hundert Jahren heimlich für sich in ihren Köpfen bewahrt haben.“