Eine Kunstaktion spürt dem Stadtbezirk zwischen Kinderspiel und Deutschem Herbst nach.

Stuttgart-Stammheim - Wie ist das mit der Erinnerung? Was passiert, wenn sich Orte der Kindheit und der Gegenwart überlagern? Eine Gruppe von Stadtwanderern ist diesen Fragen am Wochenende im Zuge der Veranstaltungsreihe arttours nachgegangen: Ausgestattet mit Kopfhörern und Empfangsgeräten ging es vom Schlossplatz aus mit der U-Bahn nach Stammheim und von dort zu Fuß auf Entdeckungstour durch den Stadtbezirk – immer entlang der Kindheitserinnerungen der Regisseurin Natascha Moschini.

 

Einmal im Kreis an der Haltestelle Schlossplatz, „wir bahnen uns einen Weg“ sagt eine Stimme, dazu einige schwebende Klänge auf den Kopfhörer. Dann liegen an der Rampe zum Tiefbahnsteig mit einem Mal Erinnerungsstücke: Alte Fotografien, Teile eines Kinderspiels, ein Flakon mit eingelegten Hagebutten. Die Teilnehmer dieses Live-Hörspiels gehen und staunen. Doch als sie noch einmal genauer hinsehen wollen, ist der Weg mit einem Band versperrt. So ist das mit der Erinnerung. Unbemerkt von den anderen Reisenden, denen allenfalls eine Gruppe mit Kopfhörern auffällt und die ansonsten ihren ganz alltäglichen Verrichtungen nachgehen, definiert ein Sprecher indessen den Ort als eine Stelle, zu der einem unvermittelt der Zugang verwehrt werden könnte. Eine Kinderstimme erzählt von damals, als es noch den alten 15er gab und Stammheim eine Straßenbahn-Schleife hatte: „Hast Du auch die Spinne gesehen, die dieses Netz gewoben hat?“, fragt das Mädchen von einst angesichts der Hängebrücke am Löwentor. Und: „Fährst du oder fährt die Landschaft vorbei?“

Es geht um die vielen Schichten von Wirklichkeit

So wird der Boden der Realität zunehmend brüchig, besonders als die Gruppe die Endhaltestelle erreicht: Die Straßenbahnschleife, an die sich das Kinder-Ich erinnert, existiert heute nur noch als Kreidemarkierung auf dem Boden. An anderer Stelle weist die Schrift den Weg zum Spielplatz, zum Containerumschlagplatz und zur Justizvollzugsanstalt – ein Ort, viele Bedeutungen. Was ist realer, was wichtiger? Rund um das berühmteste Gefängnis Deutschlands führt der Weg, aber auch in verspielten Schlangenlinien über den Spielplatz. „Woher weiß ich, dass wirklich ist, an was ich mich erinnere?“ fragt die Mädchenstimme wieder. Plötzlich liegen da auch wieder die Erinnerungen: Die Hagebuttentinktur als Hilfsmittel in einem kindlichen Aberglauben, und die Schätze aus Kindertagen.

Laut Einladungstext hat der Abriss des so genannten RAF-Traktes Natascha Moscini, Klangkünstler Samuel Gfeller, Dramaturgin Anja Winterhalter und Schriftstellerin Henriette Vásárhelyi zu diesem Streifzug durch die Wahrnehmungsebenen inspiriert. Aber eigentlich geht es um mehr: Um die vielen Schichten von Wirklichkeit. Zum Schluss definiert der Sprecher erneut „Ort“: „Einen Schauplatz besuchen, überprüfen, begutachten, verlassen, verändert verlassen.“

Das aber ist das Spannende: Man hat sich eingelassen und einen altbekannten Ort mit neuen Augen gesehen. Wahrscheinlich hat sogar jeder dabei etwas anderes wahrgenommen. Da ist es konsequent, dass das Arttours-Team keine feste Teilnahmegebühr erhebt, sondern um eine Geldspende bittet. „Spannend war es!“ rufen sich einige Teilnehmer noch zu, dann geht es ins Bistro – zum Aufwärmen, zur Diskussion mit den Künstlern von „Stammheim Schleife“ und zum Austausch von Erinnerungen.