Erst war die Verwunderung im Kunstmuseum über das unerwartete Erbe von Cornelius Gurlitt groß. Inzwischen haben sich die Berner mit der umstrittenen Sammlung angefreundet, die nach wie vor viel Diskussionsstoff bietet. Ein Besuch vor Ort.

Bern - Das Kunstmuseum liegt in einer ruhigen Seitenstraße der beschaulichen Berner Innenstadt. Hier schlug im Mai dieses Jahres die Nachricht, dass die unter Raubkunstverdacht stehende Gurlitt-Sammlung in die Schweizer Bundesstadt wandern sollte, „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ ein.

 

Heute sitzt Museumsdirektor Matthias Frehner entspannt in einem großen Sitzungssaal des Museums – wird aber noch immer nicht müde, seiner Überraschung über das unerwartete Geschenk Ausdruck zu verleihen. Eigenhändig habe er das Archiv des Hauses nach irgendwelchen Kontakten zum Münchner Kunstsammler Gurlitt durchforstet – ohne Erfolg.

In dieser Frage ist man im Kunstmuseum also bisher nicht weitergekommen, pflegt aber die eine oder andere Theorie. „Es gab da einen Onkel in Bern“, setzt Christoph Schäublin, Präsident des Stiftungsrates des Kunstmuseums, an und schiebt gleich hinterher: „Das sind natürlich nur Spekulationen.“ Die Rede ist von Wilibald Gurlitt, der seinerzeit als angesehener Musikwissenschaftler Deutschlands galt. Die Nazis vertrieben den als „jüdisch versippt“ geschmähten Professor von seinem Lehrstuhl an der Universität Freiburg, in den vierziger Jahren kam er als Gastprofessor nach Bern. „Gut möglich, dass Cornelius seinen Onkel und Patenonkel hier besucht hat und sein Weg ihn dabei in unser Haus führte“, mutmaßt Schäublin.

Warum ausgerechnet Bern?

Hinter der Überraschung über die Schweizer Erben steht aber nicht nur Gurlitts mangelnder Kontakt zum Haus. Mit dem Kunstmuseum hatte sich der Sammler auch eines der weniger renommierten Museen der Schweiz ausgesucht. So gilt die Sammlung in Bern zwar als die älteste des Landes, rangiert heute aber klar hinter den Häusern in Zürich, Basel und Genf.

Bis in die fünfziger Jahre sammelte das Museum fast ausschließlich Werke Schweizer Künstler. Im konservativen Bern war man der Avantgarde gegenüber lange Zeit wenig aufgeschlossen: „Beliebt waren heroische Alpenlandschaften und nationales Genre, die den Mythos einer autarken und unabhängigen Schweiz verkündeten“, schreibt der Direktor Frehner im Museumskatalog mit Blick auf die Sammlertätigkeit des Hauses im 19. Jahrhundert. „Der Impressionismus hatte beim konservativen Schweizer Publikum keine Chance.“ Einzelausstellungen widmeten sich stattdessen Schweizer Künstlern wie Charles Giron, Arnold Böcklin oder Rudolf Koller.

Erst nach 1944 öffnete sich das Haus unter der Leitung von Max Huggler, einem Kenner und Liebhaber der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Der verbannte kurzerhand die große Sammlung antiker Gipsstatuen auf den Speicher eines Gymnasiums und verhalf stattdessen Werken von Delacroix, Courbet, Cézanne, Manet, Chagall und Miró zum Einzug in die frei gewordenen Räume. Das Engagement des umtriebigen Direktors führte auch bald zu einer Reihe wichtiger Schenkungen und Stiftungsabkommen. Durch die Stiftung Otmar Huber kam das Haus etwa zu Hauptwerken von Picasso, Klee, Marc und Kandinsky.

„Wir hatten bedeutsamere Schenkungen“

Großzügige Zuwendungen dieser Art sind die Berner also gewohnt – sie haben die Sammlung des Hauses ganz entscheidend geprägt. Wie zufrieden ist man mit dem Gurlitt-Nachlass? „Es ist schon eine ganz spezielle Sammlung“, sagt Frehner. Sie sei „für jedes Museum ein Zugewinn“. Einige Meisterwerke befänden sich darunter – leider stünden nur viele dieser Bilder noch unter Raubkunstverdacht.

Euphorisch klingt das nicht, und Frehner schiebt nach: „Wir hatten in der Vergangenheit bedeutsamere Schenkungen.“ Die Hermann-und-Margrit- Rupf-Stiftung etwa brachte dem Haus in den fünfziger Jahren Werke von Picasso, Klee, Kandinsky, Braque, Gris und Derain. Und der Stiftung Otmar Huber verdankt das Museum den Stolz des Hauses: Picassos „Eingeschlafene Trinkerin“, ein Werk aus der Blauen Periode des Künstlers.

Christoph Schäublin bewertet das Gurlitt-Erbe ähnlich: „Die Sammlung wurde, insbesondere was ihren materiellen Wert betrifft, in einer Art und Weise hochgejubelt, die der Wirklichkeit nicht entspricht.“ Die Inventarliste zeige klar den Blick des Kunsthändlers – nicht den des leidenschaftlichen Sammlers, da sind sich beide einig. „Gurlitt hat das gekauft, was gerade auf dem Markt war“, sagt Frehner.

Die meisten Werke wandern ins Depot

Wie wird sich die Sammlung in das Kunstmuseum einfügen? Ein Rundgang durch die Ausstellungsräume zeigt: In gewisser Weise ähnelt das Gurlitt-Erbe der von Stiftungen und Schenkungen geprägten Berner Sammlung. Das Kunstmuseum bietet von vielem ein bisschen (hier eine Handvoll Surrealisten, dort einige Kubisten) und ein paar wenige, aber aparte Hauptwerke. Der Schwerpunkt des Museums auf Schweizer Künstlern bleibt daneben offensichtlich. Pablo Picassos Gemälde „Eingeschlafene Trinkerin“ ziert etwa einen Raum, der sonst fast ausschließlich dem Schweizer Ferdinand Hodler gewidmet ist.

Die Franzosen aus Gurlitts Sammlung dürften sich in Bern in jedem Fall hübsch einfügen. Als neuen Schwerpunkt stellt sich Frehner eine Ausstellung zum deutschen Expressionismus vor.

Wie üblich nach einem Erbe will das Haus die Gurlitt-Sammlung aber zunächst als in sich geschlossene Ausstellung zeigen, bevor das meiste ins Depot wandern wird. Denn ein Großteil des Gurlitt-Erbes besteht aus Zeichnungen und Grafiken, und „gerade die Papierwerke eignen sich schon aus konservatorischen Gründen nicht für eine Dauerpräsentation“, erklärt Matthias Frehner. Einen Gurlitt-Raum oder gar einen Anbau plant man nicht und sieht dafür auch keinen Anlass. „Wir fügen die großen Werke da ein, wo sie in unsere Sammlung passen.“

Die Schweizer waren nicht enthusiastisch

Dass die Werke, die nicht unter Raubkunstverdacht stehen, tatsächlich nach Bern kommen werden, daran hegen Schäublin und Frehner keinerlei Zweifel. Den Anspruch, den Gurlitts Cousine auf das Erbe erhoben hat, nehmen beide ganz offensichtlich nicht ernst. Er passe im Übrigen zum eher erratischen Verhalten der Gurlitt-Familie, so Schäublin. Im Umgang mit dem schwierigen deutschen Erbe haben Schäublin und Frehner bisher alles richtig gemacht. Dazu hat die nüchterne Art der Schweizer sicherlich beigetragen: Man sei „nie sehr enthusiastisch“ gewesen, was das Erbe betrifft, sagt Matthias Frehner, und das glaubt man dem zurückhaltend auftretenden Museumsleiter sofort.

Dass sein Haus es dank des Gurlitt-Erbes auf die Titelseite der „New York Times“ gebracht hat, bewertet Frehner realistisch. „Ohne den historischen Hintergrund der Sammlung wäre ihnen das höchstens eine kleine Randnotiz wert gewesen.“

Eine größere internationale Reputation für sein Museum verspricht sich Matthias Frehner weniger von den neuen Kunstwerken als von der neuen Forschungsstelle für Raubkunst, welche die Berner bald einrichten wollen.

Vielleicht ist es diese Schweizer Gelassenheit, die sich der scheue, stets zurückgezogen lebende Cornelius Gurlitt für den Umgang mit seiner Sammlung gewünscht hat. Dass der Teil der Sammlung, der nicht unter Raubkunst-Verdacht steht, bald einen Platz in der ruhigen Berner Hodlerstraße findet, könnte ein schöner Schlussstrich unter eine von mancher Unsachlichkeit und Hysterie geprägten Geschichte um Cornelius Gurlitts Erbe sein.