Kunst auf 70 Metern rollenden Metern: Vier Künstler haben ein Fahrzeug der Baureihe 423 in eine mobile Galerie verwandelt. Wer mit der S4, S5 oder S6 fährt, wird mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert – ob man will oder nicht.

Stuttgart - Die S-Bahn mit dem Garten Eden in Verbindung zu bringen, darauf muss man erst mal kommen. Magdalen Hayes, die Geschäftsführerin der Kulturregion Stuttgart, hatte diese Idee – und keine Angst vor der Provokation. Am Samstag hatte die mobile Galerie mit dem Titel „Garten Eden“ in einer S-Bahn der Baureihe 423 auf Gleis eins am Hauptbahnhof Vernissage. Bei dem kunstfreundlich gesinnten Publikum kamen die 70 Meter rollende Kunst prächtig an – dem Himmel sei’s gepfiffen und getrommelt.

 

„Wir erleben heute, dass auch die S-Bahn ein inspirierender Ort sein kann“, sagte Dirk Rothenstein, der Geschäftsleiter der S-Bahn Stuttgart, bei der Einführung auf dem Bahnsteig. Und Petra von Olschowski, die Rektorin der Kunstakademie, bescheinigte den Bahnleuten Wagemut, da sie es sich trauten, ihre Kunden mit zeitgenössischer Kunst zu konfrontieren – „ob die das wollen oder nicht“.

Die Kunst verstellt den Fahrgästen den Blick nach draußen

Tatsächlich verstellt diese Kunst den Fahrgästen nun den Blick nach draußen. Statt Baulöcher oder Landschaft erblicken diejenigen, die nicht in ihre Smartphones starren, wollige, walisische Schäfchen auf blauem Grund, liegend, torkelnd, wegmarschierend – süß und unwirklich, wie das Paradies. Sinje Dillenkofer hat sich das ausgedacht. Die in Stuttgart und Berlin arbeitende Künstlerin hat die Tiere fotografiert, ihre Körper freigestellt, also ihrer natürlichen Umgebung entzogen und so zu Kunstobjekten gemacht. Die Kopien wurden auf kratzsichere Folie aufgezogen und auf die Fenster geklebt. Man könnte das als Aufforderung verstehen: Soll sich doch jeder sein eignes Paradies draus machen.

Doch was ist das schon, so ein Paradies? Bei Julia Schmid sind es Hyazinthe und Rosmarin, Kaktus und Schwiegermutterzunge, die die Hannoveraner Künstlerin fotografiert, digital bearbeitet und daraus Collagen gestaltet hat. Beim geneigten Vernissagenpublikum, das sich inzwischen in die S-Bahn begeben hat, rufen die inszenierten Pflanzensammlungen ganz andere Assoziationen hervor: „Sieht aus wie eine Unterlage im Schnellrestaurant“, sagt eine Frau. Eine andere ergänzt: „Ja, aus Plastik.“ Nun ja, das Paradies kann schließlich ganz unterschiedlich beschaffen sein.

Wurzeln, Insekten und Farbverläufe statt Baulöchern

Eher ratlos lassen die Gäste Thomas Deyles Farbverlaufsbilder und raumgreifenden mathematischen, handschriftlichen Dokumentationen der Schichtaufträge zurück. Der Blick fällt eher auf die figürlichen Darstellungen – Wurzeln, Insekten, Früchte, die der Kölner Künstler den Objekten beigefügt hat – ebenfalls natürlich auf Folie kopiert.

Carolin Jörg macht es nicht so kompliziert. Die Künstlerin, die in Stuttgart und Lyon arbeitet, belässt es beim Staunen. Wie Seifenblasen scheinen die kleinen Sprechblasen aus schwarzer Tusche mit den „Oh“s in dem Fenster zu schweben. Lautmalerisch und doch ganz still.

Ein Materialtest für S 21? Nein, es ist Kunst

Für die Vernissage haben sich die Veranstalter noch einen besonderen Gag ausgedacht. Die ausgefeilte Percussion-Performance wird aber nicht sofort von allen S-Bahn-Insassen als Kunst wahrgenommen. Ein Mann mit Warnweste trommelt wie verrückt von außen gegen die Scheibe. Einer? Eine ganze Gruppe ist es. Der Körperschall der Schläge scheint die S-Bahn zum Beben zu bringen. „Wenn wir das machen täten, gäb’s ein Anschiss“, meint eine Frau. „Vielleicht“, so sinniert sie, „ist es ja ein Materialprüfungstest für Stuttgart 21“. Falsch. Es geht noch um den Garten Eden.

„Halt’s Maul du Penner, ich mach dich Paradies“

„Was darf die Kunst?“, fragt Timo Brunkes Stimme aus dem Off, „darf sie uns stören? Muss sie uns wehtun? Unterliegt sie einem Prinzip?“ Und schwupp, wechselt der Sprecher in einen Schwaben-Rap: „Die Kunscht isch da, und sie gugget di a.“ Alsbald geht’s wieder auf hochdeutsch weiter:“Was wäre die Welt ohne den Auszug aus dem Garten Eden?“ Die Trommler versuchen das auf ihre Art zu ergründen, streifen erst mit Stöckchen, dann mit Geigenbögen über die Lamellen der Oberlichter, trommeln auf den Sektgläsern und Schenkeln der Gäste herum und auf den Notbremshebeln. Dann die Stimme aus dem Off: „Im Himmel gibt’s alles, Alder, gibt’s Myrrhe, Alder, den krieg ich. Was laberst du, komm mit, du Spast. Halt’s Maul du Penner, ich mach dich Paradies.“

Info Die rollende Galerie ist bis 31. August in dem Zug zu sehen, der auf den Linien der S4, S5 und S6 eingesetzt wird.