Im Januar waren in Lahr Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge auf die Straße gegangen. Anlass war die vermeintliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen. Nun hat sich der OB mit den Spätaussiedlern zum Gespräch getroffen.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Lahr - Sie haben die Deutschen aus Russland angegriffen und beleidigt“, zischt der hochgeschossene ältere Mann dem Oberbürgermeister zu. „Es gibt keine Spätaussiedler, das kann ich nicht mehr hören.“ Wolfgang G. Müller, seit 1997 sozialdemokratischer Oberbürgermeister in Lahr, hält dem bösem Blick eisern stand. Schon der erste Redebeitrag nach seiner freundlichen Begrüßung fällt harsch aus. „Wir waren in Russland Deutsche, wir sind hier Deutsche.“ Auch alle weiteren Redner pochen – in gebrochenem bis miserablem Deutsch – darauf, besonders gute Deutsche zu sein. Sie seien in ihre Heimat zurückgekehrt, sie seien keine Asylanten, sie seien fleißige Arbeiter. Und immer noch spürten sie böse Blicke, wenn sie Russisch sprechen.

 

Der Lahrer Oberbürgermeister hatte am Mittwochabend „Spätaussiedler zum Gespräch“ eingeladen, nachdem „die jüngsten Ereignisse rund um Fragen der Aufnahme von Flüchtlingen wie auch die Ergebnisse der Landtagswahl“ deutlich gemacht hätten, dass es Redebedarf gibt. Etwa 150 der gut 10 000 in Lahr lebenden Russlanddeutschen waren gekommen. Im Januar waren rund 450 von ihnen nach Falschmeldungen russischer Medien über ein angeblich von Flüchtlingen vergewaltigtes russlanddeutsches 13-jähriges Mädchen in Berlin mit fremdenfeindlichen Parolen vor das Rathaus gezogen. Bei den Landtagswahlen am 13. März erzielte die rechtspopulistische AfD in den Wohnquartieren der Aussiedler Spitzenergebnisse bis über 30 Prozent. „Aus Trotz“ habe sie die AfD gewählt, bekennt eine Frau mittleren Alters.

Der OB lobt den Willen zur Integration

Mit Zahlen und Fakten belegte Wolfgang G. Müller, was die jetzt 45 000 Einwohner zählende Stadt in der Ortenau in den vergangenen 20 Jahren an Eingliederungshilfen bis hin zum Wohnungsbau geleistet hat. Die zweisprachige Sozialarbeit für Russlanddeutsche gibt es bis heute. Und er zollte ihrem „hohen Willen zur Integration“ Respekt: Im größten Industriebetrieb der Stadt sei jeder vierte, bei der Stadt jeder zehnte Beschäftigte ein Russlanddeutscher. Viele Sportvereine – für Ringer und Fußballer vor allem – könnten ohne sie kaum mehr existieren.

Weniger engagiert sind sie in der Politik, bei den Kommunalwahlen wurden ihre Landsleute auf den Listen nicht gewählt. Lediglich in drei Ortschaftsräten sind Aussiedler vertreten. Dafür sind bereits zwei junge russlanddeutsche Frauen „Chrysanthemenkönigin“ gewesen. Der OB preist die „ausgesöhnte Verschiedenheit“, also Integration, mit Respekt vor der Eigenheit. Dass aber nun die bereits angekommenen Zuzügler massiv Front gegen neue Zuzügler aus Syrien, Afrika oder Pakistan machen, stößt in Lahr bitter auf. „Wir haben Angst“, rechtfertigt sich eine Frau. „Es kommen junge Männer, warum sind sie geflohen?“ Man könne nachts nicht mehr rausgehen. „Und jetzt kommt der Frühling und die Röcke, ich mache mir Sorgen“, assistiert ein Mann, der bestreitet, dass die Aussiedler gegen Flüchtlinge seien.

Verwaltung betont, wie sicher die Stadt sei

„Lahr ist eine sichere Stadt. Bei Tag und Nacht“, entgegnet der Zweite Bürgermeister Guido Schöneboom. Die Polizei habe bisher keine Straftaten von Flüchtlingen registriert, das solle man endlich mal zur Kenntnis nehmen. „Die Lage ist viel besser als das subjektive Befinden.“ Und Schulamtsleiter Günter Evermann erinnert an die Zeit, als die Russlanddeutschen selbst auf Toleranz und Geduld der Einheimischen angewiesen waren. „Früher haben die jungen Frauen Angst vor den jungen russlanddeutschen Männern gehabt.“ Passiert sei meistens nichts. Dass es zeitweise eine Häufung von Straftaten von Russlanddeutschen – bis hin zu Mord und Totschlag – gab, habe „wehgetan, wenn es in der Zeitung stand“, räumt eine Frau ein. Aber das sei längst vorbei.

„Dieses Gespräch war ein wichtiger Auftakt“, zog Oberbürgermeister Müller eine erste Bilanz. „Helfen Sie mit, Lahr solidarisch zu halten“, appellierte das Stadtoberhaupt. Vierzehn ehrenamtliche Initiativen mit Hunderten Helfern unterstützen derzeit die knapp 900 Flüchtlinge in Lahr. Aus der Szene der Russlanddeutschen sind keine bekannt.