Hat die grün-rote Landesregierung ihre Versprechen gehalten? Am Ende der Legislaturperiode untersucht die Stuttgarter Zeitung, was auf zentralen Politikfeldern geschehen ist.

Stuttgart - Einen Bildungsaufbruch an den Schulen hat die grün-rote Koalition angekündigt und sie ist geradezu losgestürmt. Das gleich an so vielen Stellen, dass manche Kritiker Abbruch statt Aufbruch wahrnahmen. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der SPD-Kultusminister Andreas Stoch haben im Rückblick gelegentlich angedeutet, dass es manchmal vielleicht ein bisschen schnell gegangen sei – im ersten Reformeifer. Über die Aufbrüche ist die erste SPD-Kultusministerin gestolpert. Gabriele Warminski-Leitheußer musste im Januar 2013 das Feld für Stoch räumen.

 

Für Grüne und SPD war das Schulsystem ausweislich des Koalitionsvertrags „nicht auf der Höhe der Zeit“. Sie halten nichts vom „Prinzip des Aussortierens“, auf dem das gegliederte Schulsystem fuße und sie traten an, das Schulsystem sozial gerechter zu machen.

Sie haben Ganztagsbetrieb an Grundschulen eingeführt. Der Streit über die Flexibilität der Angebote hält an. In 44 Städten gibt es nun wieder neunjährige Gymnasien. Zusätzliche Optionen stellt inzwischen eher die aktuelle Opposition in Aussicht als die Regierung. Die Inklusion wurde zur Aufgabe an allen Schulen erklärt, sie leidet aber am Mangel an Sonderpädagogen.

Neue Schulart: Gemeinschaftsschule

Die Liste der Reformen im Schulwesen ist lang – einigen ist sie zu lang. Dabei hat die Koalition im Bildungsbereich gar nicht alle Vorhaben umsetzen können. Das zentrale und gleichzeitig das am meisten umstrittene Projekt in der Bildungspolitik ist die Einführung einer neuen Schulart. Die Gemeinschaftsschule ist die Schulform, die auf drei Leistungsniveaus (vom Hauptschullevel bis zum Gymnasium) unterrichten soll. Kinder lernen bis zur zehnten Klasse gemeinsam. Eine Differenzierung in leistungsabhängige Kurse ist nicht vorgesehen, auch keine Notengebung.

Die Nachfrage ist groß. Begonnen hat die neue Schulart im Jahr 2012 mit 42 Starterschulen. Von Herbst 2016 an wird es 299 Gemeinschaftsschulen im Land geben. Die allermeisten sind aus Werkrealschulen entstanden. Die Regierung wertet die Nachfrage als Erfolg. Für sie ist die Gemeinschaftsschule die Möglichkeit, in der Fläche wohnortnah ein breites Angebot an Schulabschlüssen vorzuhalten. Gleichzeitig biete sie neue pädagogische Möglichkeiten. CDU und FDP dagegen vermuten „Gleichmacherei“ und lehnen das pädagogische Konzept weitgehend ab.

Wider das unkontrollierte Schulsterben

Den Hauptschulen sind in der grün-roten Ägide noch mehr Schüler davongelaufen als zuvor. Das unkontrollierte Schulsterben wollte die Regierung stoppen. Sie hat ein Gesetz zur regionalen Schulentwicklung erlassen, das Mindestgrößen für Schulen und die Abstimmung innerhalb von Regionen vorsieht. Allerdings kam das Gesetz erst, nachdem die ersten Gemeinschaftsschulen genehmigt waren.

Schnell hat die neue Regierung auch die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung abgeschafft. Seit 2012 haben Eltern das letzte Wort darüber, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen soll. Das habe das faktische Ende der Hauptschulen noch beschleunigt, darin sind sich die Experten und die Politik einig. Im Herbst 2011 wechselten 23,7 Prozent der Viertklässler auf eine Hauptschule, 2015 waren es noch 7,2 Prozent.

Dennoch wollen auch die jetzigen Oppositionsparteien die Grundschulempfehlung nicht wieder verbindlich machen. Ihre Befürchtung, Eltern könnten in großer Zahl ihre Kinder an den Gymnasien anmelden, auch wenn die Lehrer anderer Ansicht wären, hat sich nicht bestätigt. So hatten im vergangenen Schuljahr 87,7 Prozent der neuen Fünftklässler am Gymnasium auch eine Empfehlung für diese Schulart.

Streit um Lehrerstellen

In der Diskussion um die Gemeinschaftsschulen haben sich vor allem die Parteien mit gegenseitigen Ideologievorwürfen beharkt. Eltern und Lehrer aber wurden schwer enttäuscht und möglicherweise nachhaltig verärgert durch eine Zahl: Die Regierung kündigte an, man werde bis zum Jahr 2020 stolze 11 600 Lehrerstellen abbauen. Sie seien von der Vorgängerregierung zur Disposition gestellt worden, nicht dauerhaft finanziert und könnten frei werden, wenn die Schülerzahlen sinken.

Das war vor allem die Argumentation der Grünen. Die SPD war zögerlich bei den Abbauplänen und schnell bei der Hand mit der Forderung, sie aufzugeben. Verabschiedet hat sich die Regierung von den Sparvorhaben, nachdem das Statistische Landesamt neue Schülerprognosen vorlegte und nach zwei Jahre währendem inner- und außerkoalitionärem Zwist.

Gestrichen wurden 2013 tausend und 2014 genau 363 Stellen, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gezählt hat. Für 2015 und 2016 wurden 1147 neue Stellen geschaffen – für Inklusion, für die individuelle Förderung an Realschulen und Grundschulen sowie für die Vorbereitungsklassen für Flüchtlinge.

Umgang mit Heterogenität

Alle Schulen suchen und benötigen Unterstützung beim Umgang mit Heterogenität. Dabei weist die Schülerschaft der Realschulen allen Untersuchungen zufolge die größte Bandbreite der Leistungen auf. Die Realschulen bieten nun auch den Hauptschulabschluss an. Um das richtige Konzept für die Realschulen ringen Regierung und Opposition. Grün-Rot hält sich zugute, dass sie so genannte Poolstunden zur individuellen Förderung neu an der Realschule eingeführt hat. Das entspricht im Endausbau 424 zusätzlichen Lehrerstellen. CDU und FDP beklagen dennoch eine Vernachlässigung der Realschule.

Als Erfolg verbucht Kultusminister Stoch auch, dass die beruflichen Schulen besser versorgt seien. Im Schuljahr 2011/12 konnten 4,4 Prozent aller Schulstunden nicht angeboten werden, weil die Lehrer fehlten. Inzwischen beträgt diese strukturelle Unterrichtsdefizit 1,8 Prozent.

Ärger um den Bildungsplan

Überschattet wurden die bildungspolitischen Reformen von der unerwarteten Protestwelle gegen den neuen Bildungsplan. Die „Leitperspektive Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ hat beinahe einen Kulturkampf ausgelöst. Das Ministerium wirkte zunächst hilflos gegenüber Vorwürfen wie „Frühsexualisierung“ oder versuchter „sexueller Umerziehung“.

Ein Zitat aus dem Bildungsplan: „Kernanliegen der Leitperspektive ist es, Respekt sowie die gegenseitige Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit zu fördern. Grundlagen sind die Menschenwürde, das christliche Menschenbild sowie die staatliche Verfassung mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie.“ Zum Sinn heißt es weiter: „Die Leitperspektive zielt auch auf die Fähigkeit der Gesellschaft zum interkulturellen und interreligiösen Dialog und zum dialogorientierten, friedlichen Umgang mit unterschiedlichen Positionen bzw. Konflikten in internationalen Zusammenhängen.“

Was nicht erreicht wurde

„Gemeinsam mit den Schulen, Lehrerverbänden und Gewerkschaften wollen wir die Entwicklung neuer Lehrerarbeitszeitmodelle auf den Weg bringen“, versprachen Grüne und SPD zu Beginn ihrer Regierung. Das heiße Eisen hat auch Grün-Rot nicht angepackt. Ganztagsschulen und neue Unterrichtsformen legen es zwar nahe, die Arbeitszeit der Lehrer nicht mehr ausschließlich nach der Zahl der geleisteten Unterrichtsstunden zu bemessen. Aber selbst die Gewerkschaften haben noch kein Bemessungsmodell gefunden, das deutlich gerechter wäre. Vorerst muss genügen, dass Lehrer anders ausgebildet werden. Ihr Studium wurde umgestellt.

Zielmarke bei Privatschulen verfehlt

„Wir werden die gerechte Finanzierung der Schulen in freier Trägerschaft umsetzen. Unser Ziel ist dabei ein Kostendeckungsgrad von mindesten 80 Prozent der Kosten eines Schülers an einer staatlichen Schule gemäß dem Bruttokostenmodell“. Das strebt seit einiger Zeit jede Landesregierung an, auch Grün-Rot hat die Verbesserung der Finanzierung zugesagt – und das Ziel verfehlt. Jedoch stehe die Koalition zum Ende der Legislatur bei einer Kostenübernahme von 78 Prozent. Das habe noch keine Regierung zuvor erreicht, sagt der Finanzminister Nils Schmid (SPD). Grün-Rot hat die Summen, die an die Privatschulen geflossen sind um 29 Prozent erhöht. Allerdings müssen freie Schulen, die beamtete Lehrer beschäftigen, künftig Rücklagen für deren Pensionen bilden.

Ethikunterricht steht noch aus

„Ethik soll neben Religion als Alternative schrittweise ab Klasse 1 eingeführt werden“.

Dieses Versprechen aus dem Koalitionsvertrag haben Grüne und SPD nicht erfüllt. Beide bedauern – und beide versichern, das Vorhaben werde in der nächsten Legislaturperiode in Angriff genommen. Die Grünen wollen Ethikunterricht als Alternative zum Religionsunterricht von der ersten Klasse an ebenso sicherstellen wie die SPD. Die wird konkret und sagt, Ethik werde ab Klasse 1 vom Schuljahr 2017/2018 an schrittweise eingeführt. Der stufenweise Ausbau von Ethik in den allgemein bildenden Schulen werde angestrebt.