In der südbadischen Region sind vor kurzem die Dienstbezirke der Notfallrettung neu eingeteilt worden. Die Auswirkungen stoßen zunehmend auf Kritik.

Waldshut - Die Frau aus dem Raum Küssaberg (Kreis Waldshut) hatte erst heftige Kopfschmerzen, dann spürte sie Schwindel. Es war früher Abend. Die Altenpflegerin rief beim Deutschen Roten Kreuz an. Ein Notfall. Helfen konnte das Rote Kreuz ihr nicht. Stattdessen wurde die Frau an den ärztlichen Notfalldienst verwiesen. Dort sagte man der fahruntüchtigen Patientin, sie solle mit dem Auto in die Notfalldienstpraxis im Krankenhaus Waldshut kommen. Nachdem sie eine Mitfahrgelegenheit organisiert hatte, rief sie in der Klinik an. Dort teilte man ihr mit, dass die Sprechstunde schon seit 19 Uhr zu Ende sei. Sie könne kommen, müsse sich aber stationär aufnehmen lassen. Die Altenpflegerin verzichtete. So kann’s gehen, seit die Notfalldienste im Kreis Waldshut neu geordnet wurden. Wer nicht lebensbedrohlich verletzt oder krank ist, muss warten können. Der Rettungsdienst muss in 15 Minuten beim Patienten sein. So steht es im Gesetz. Ansonsten kann’s dauern.

 

In Baden-Württemberg sind nach dem Rettungsdienstgesetz die Land- oder Stadtkreise für das Rettungswesen zuständig. Rettungswagen und Hubschrauber sollen für Patienten in akuter Lebensgefahr bereitstehen. Ein Notarzt muss immer an Bord sein. Oft sind sie in Kliniken angestellt, aber in ländlichen Gebieten können auch niedergelassene Mediziner diese Tätigkeit mit ausüben, wenn sie eine einschlägige Zusatzausbildung haben. Daneben existiert das System der Notfalldienste, zu dem niedergelassene Ärzte verpflichtet sind. Sie sollen die medizinische Versorgung in der sprechstundenfreien Zeit aufrechterhalten. Die Organisation der Notfalldienste ist Sache der Ärzte, in aller Regel übernimmt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) diese Aufgabe.

Bisher ist das Land in knapp 400 Notfalldienstbezirke aufgeteilt, künftig soll es nur noch 70 Bezirke geben. Die Belastung mit Notfalldiensten spielt laut KV eine Rolle bei der Frage, wo sich junge Mediziner ansiedeln wollen. „Wenn wir die Dienstbelastung nicht senken, finden wir keine Ärzte mehr, die sich niederlassen“, sagt die Standesorganisation. Einen Fall wie den der Altenpflegerin hält die KV für durchaus „zumutbar“.

Die dünn besiedelte Region gilt als schwieriges Terrain

Im Landkreis Waldshut stehen seit dem 1. Juli im östlichen Teil nur noch ein Fahrdienst und eine Notfallpraxis im Spital Waldshut zur Verfügung. Im westlichen Teil ist die Reform noch nicht umgesetzt. Bald aber sollen im ganzen Landkreis statt der bisher 16 Notfalldienstbezirke nur noch zwei Fahrdienste und zwei ambulante Zentren zur Verfügung stehen, und das auch nur noch in Kliniken in Waldshut und Bad Säckingen statt wie bisher in den Arztpraxen. Dabei gilt der dünn besiedelte Raum mit 32 Gemeinden und 168 000 Einwohnern schon jetzt als schwieriges Terrain für Notfälle.

Unter den mehr als 200 für den Notfalldienst bereitstehenden niedergelassenen Medizinern, aber auch in der Bevölkerung und in der Politik, macht sich nun Unmut breit. Im Zentrum der Kritik steht der Kreisbeauftragte der KV für den Notdienst, der Allgemeinmediziner Olaf Boettcher aus Herrischried (Kreis Waldshut). Ihm wird aus der Ärzteschaft vorgeworfen, die Neuregelung im Hauruck-Verfahren umgesetzt zu haben. Selbst der Waldshuter Landrat Tilman Bollacher (CDU) hatte von der Reform erst aus der Lokalpresse erfahren. Von „Selbstherrlichkeit“ und einer „ganz großen Sauerei“ spricht der FDP-Kreisrat Erhard Graunke. Mit Recht offenbar, denn es besteht eine Vereinbarung der KV mit dem Landkreis die Reform gemeinsam zu entwickeln. Auch Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) unterstützt das Reformprojekt, allerdings nicht uneingeschränkt. „Grundsätzlich muss eine wohnortnahe, in erreichbarer Nähe liegende Notfalldienstversorgung gewährleistet bleiben“, heißt es aus dem Ministerium. Doch gerade daran hapert es im Landkreis Waldshut offenkundig. An der Basis brodelt es gewaltig. Die Vorwürfe aus der Ärzteschaft gegen Boettcher und die KV sind massiv und vielschichtig. Der KV-Beauftragte habe eigenmächtig gehandelt und Ergebnisse von Besprechungen einfach nicht durchgesetzt. Als Mediziner des westlichen Landkreises im April in Bad Säckingen das neue Modell diskutierten, „gab es keine einzige Stimme, die dafür sprach, dass dieser große Dienstbereich mit einem Fahrdienst und den damit verbundenen Entfernungen zu bewerkstelligen“ sei, fassten beteiligte Ärzte das Treffen zusammen. Die Fahrdienste stellten eine „unzumutbare Härte“ dar.

Boettcher aber interessierte dies offenbar ebenso wenig wie den Stellvertretenden KV-Landesvorsitzenden Johannes Fechner. Die kommunale Seite war erst gar nicht gehört worden. Dabei hatte Fechner noch im Januar gegenüber dem Landkreistag „eine offene, transparente und zeitnahe Information aller Beteiligten“ zugesagt. Wie unzulänglich das neue System funktioniert, hat der Hausarzt Hans Lippert aus Jestetten erfahren. In einem Leserbrief beschrieb er den Horror des neuen Notfall-Fahrdienstes. In seiner 24-Stunden-Schicht sei er gut 500 Kilometer auf engen und steilen Schwarzwaldstraßen unterwegs gewesen und doch viel zu spät bei den Patienten. Am Ende habe er nicht mal alle Kranken besuchen können.

Kritiker sehen die Leistungsfähigkeit reduziert

Boettcher nimmt eine absurd erscheinende Doppelfunktion ein. Einerseits ist er Sprecher der Rettungsnotärzte, anderseits KV-Kreisbeauftragter für den ärztlichen Notdienst. Kritiker halten ihm vor, er bevorteile in dieser Rolle den Rettungsdienst und reduziere auf der anderen Seite die Leistungsfähigkeit des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, um den Bedarf der Rettungsnotärzte künstlich hoch zu halten. Boettcher weist die Vorwürfe zurück. Er ist selbst Notarzt. Bisher betreute er zusammen mit dem Rettungsdienst den Raum Herrischried, ein relativ kleines Gebiet von etwa 2000 Einwohnern. Weil Ende Juni die KV und die Landesärztekammer die Verträge über die Vergütung der Blaulichtnotärzte mit den Krankenkassen kündigten, drohte auch Boettcher ein erheblicher Einnahmeverlust. Für eine 24-Stunden-Schicht als Rettungsnotarzt gibt es bisher 320 Euro, an Wochenenden und Feiertagen 340 Euro. Egal, ob es etwas zu tun gibt oder nicht. Eine Praxis wie die Olaf Boettchers, die diesen Dienst im Rettungswagen weitgehend allein übernimmt, konnte auf diese Weise übers Jahr gut und gerne auf einen Zusatzverdienst von mehr als 100 000 Euro kommen.

Der KV und der Landesärztekammer ist das noch zu wenig. Sie wollen von den Kassen noch mehr Geld für die Blaulicht-Notärzte herausschlagen. Sie sollten für ihre Notarzttätigkeit mit den Vergütungen für Krankenhäuser gleichgestellt werden. Den Kliniken werden 480 Euro pro 24-Stunden-Schicht verrechnet, auch weil sie die gesamte medizinische Infrastruktur rund um die Uhr vorhalten. Die Blaulicht-Notärzte am Hochrhein forderten zunächst 40 Euro die Stunde, macht pro Schicht 960 Euro. Dann wollten sie sogar „mindestens 50 Euro“, also 1200 Euro für eine Schicht.

Der Vorwurf persönlicher Bereicherung wird zurückgewiesen

Boettchers Praxis stünden dann Einkünfte bis zu 400 000 Euro zu, hatten ihm Kollegen vorgerechnet. Man könne nachvollziehen, dass Boettcher einen „gewissen Ehrgeiz“ entwickle, „diese Lösung zu installieren“. Den Vorwurf persönlicher Bevorteilung weist Boettcher als „schlichtweg absurd“ von sich. Zu der Bezahlung von Notärzten im Landkreis Waldshut könne er aufgrund eines „Stillschweigeabkommens“ keine Auskunft geben. Da bitte er „um Verständnis“. Auch an der Neuordnung der Notfallfalldienste mit zwei Bezirken will er festhalten, trotz aller Kritik. Es gehe darum, Erfahrungen zu sammeln.

Ähnlich argumentiert die Kassenärztliche Vereinigung. Man habe „Herrn Dr.  Boettcher“ als „engagierten Arzt und Kreisbeauftragten kennengelernt, mit dem wir gut zusammenarbeiten“. Vor dem Unmut aus der Ärzteschaft verschließt die KV ganz die Augen. Die Neuregelung der Notfalldienste sei zwar „immer ein Politikum vor Ort“, doch werde diese „im Großen und Ganzen ( . . .) ohne große Kontroversen durchgeführt“. Dennoch hat der Kreistag Waldshut im Oktober einen Runden Tisch mit Vertretern des Landkreises, der Ärzteschaft und der Krankenkassen durchgesetzt. Dieser Kreis soll nun nachbessern, was die KV mit ihrem Beauftragten Boettcher nicht zu regeln imstande war.