Die Baden-Württemberger sollen sich ihrer Werte bewusst werden und sich mit der Landespolitik identifizieren. Das hat sich Muhterem Aras zum Ziel gesetzt. Der Weg ist noch nicht ganz klar.

Stuttgart - Sie ist die erste Muslimin an der Spitze eines Landesparlaments in Deutschland. Das hat Muhterem Aras bei ihrer Wahl zur Landtagspräsidentin im Mai internationales Interesse eingetragen. Der britische „Independent“ zitierte die Stuttgarterin mit anatolischen Wurzeln mit ihrem Satz, „wir haben heute Geschichte geschrieben“. Aras war sich der Bedeutung des „großen Tages“ sehr bewusst und sparte nicht mit Pathos. Der Landtag habe weit über Baden-Württemberg hinaus ein Zeichen für Weltoffenheit, für Toleranz und für das Gelingen von Integration gesetzt, sagte sie. Dabei ist ein Landtagspräsident gemeinhin eher eine Randfigur im Weltgeschehen.

 

Die 50-jährige Grüne erinnert gern an ihren medienwirksamen Start und formuliert hohe Ansprüche: Das Interesse an demokratischen Prozessen fördern, den Bürgern den Wert parlamentarischer Arbeit vermitteln, die Länderparlamente stärken und den respektvollen Umgang im Parlament befördern - letzteres auch und gerade weil jetzt die AfD im baden-württembergischen Landtag sitzt.

Aras, die Ehrgeizige, will keine Fehler machen. Sie war es, die externe Juristen prüfen ließ, ob die AfD im Landtag zwei Fraktionen bilden darf. Noch fehlt ihr die Routine, sie ist sehr um Korrektheit bemüht, da wartet sie lieber länger, ehe sie einen Redner zur Ordnung ruft. Manchmal so lange, dass die Abgeordneten ungeduldig werden.

Bekenntnis zu Baden-Württemberg

Das Weltgeschehen schwappt nach Baden-Württemberg. In ganz Europa erstarken die Rechtsnationalen. 15 Prozent der Wähler haben die AfD in den Landtag befördert. Großbritannien kehrt der EU den Rücken, in der Türkei holt Erdogan zu „Säuberungen“ aus. Das alles führt bei Muhterem Aras dazu, über Baden-Württemberg zu sagen: „Ich liebe dieses Land jeden Tag noch mehr“. Jetzt gelte es, in den Grundwerten zusammenzustehen, sich diese Grundwerte überhaupt bewusst zu machen, denn die Weltpolitik zeige, „es gibt keinen Automatismus für den Erhalt dieser Werte“.

Dazu will sie als Präsidentin einen Beitrag leisten. Sie suche neue Formate, um mit den Bürgern über die großen Themen ins Gespräch zu kommen, sagt sie. Sie wolle die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, mit Persönlichkeiten erörtern, die etwas zu sagen haben. Sie denkt an ein Zusammenspiel des Landtags mit Stiftungen oder mit den Kirchen. Eine Spielstätte könnte das neue Bürger- und Medienzentrum sein, das der Landtag im kommenden Jahr einweihen will. Aber die Stuttgarterin will weitere Kreise ziehen: „Ich werde mich auch im Land bewegen, ich bin ja keine Präsidentin nur für Stuttgart“.

Über das ganze Land sollen die Veranstaltungen gestreut werden, mit denen sie als überparteiliche Botschafterin des Parlamentarismus auch das Interesse an der Landespolitik steigern will. Öffentlichkeitswirksame Auftritte liegen der Steuerberaterin. Ihre Kritiker sagen, diese Fähigkeit überdecke ihren Mangel an Umsetzungsstärke.

Stimmenkönigin unter den Parlamentariern

Nicht umsonst ist die Abgeordnete aus der Stuttgarter Innenstadt die Stimmenkönigin unter den Landesparlamentariern. Brigitte Lösch, ihre Parteifreundin und Vorgängerin im Wahlkreis, musste in die Neckarvororte ausweichen. Aras riskierte gegen die Vizepräsidentin Lösch auch die innerparteiliche Kampfkandidatur um das Präsidentenamt und gewann.

Landespolitik aus dem Schatten holen

Dass die Landespolitik im Schatten der Bundespolitik steht und sich die Kommunen im Zweifel die Errungenschaften des Landes zugutehalten, tue ihr regelrecht weh, sagt Aras: „Wir dürfen uns da nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.“ Selbstbewusst zählt sie auf, was sie als die Glanztaten der ersten Regierung Kretschmann betrachtet: Das Land hat die Zuschüsse für Kleinkindbetreuung, Ganztagsschule, Schulsozialarbeit beträchtlich erhöht. Doch was passiert: die Kommunen schmücken sich damit und der Bürger fragt, wozu eigentlich ein Landtag nötig ist. „Wir müssen die Erfolge des Landtags besser darstellen“, findet die langjährige Stuttgarter Gemeinderätin und meint „da kann man von den Kommunen was abgucken“.

Je größer die Bühne, desto lieber. Die erste Landtagspräsidentenkonferenz hat Muhterem Aras schon hinter sich. Die Länderparlamente wollen ihr Gewicht auf europäischer Ebene erhöhen. Diese Aufgabe fällt Baden-Württemberg zu. Da will Aras sich und die Länder nicht unter Wert verkaufen: „Wir wollen bei der EU nicht wie Lobbygruppen behandelt werden“. Genaue Pläne gibt es noch nicht, aber die Präsidentin aus dem Südwesten sucht den Schulterschluss mit anderen föderalistischen Staaten, zum Beispiel mit Österreich.

Mitgestalten als „Kick“

Sie selbst will mitgestalten: „Das ist für mich der Kick“. Dass sie verändern kann, dass sie dabei ist, bei den großen Themen, die das Leben der Bürger verändern, das findet die Abgeordnete „phänomenal“. Dieses Gefühl will sie teilen: „Möglichst viele sollen sich mit der Landespolitik identifizieren“.

Den Vorteil des Landtags sieht sie in der Nähe zu den Bürgern. „Das ist extrem wichtig, wir wissen, wo der Handlungsbedarf ist“. In fünf Jahren soll der Landtag offener und transparenter sein. Dann sollen die Bürger die langen Linien der Landespolitik erkennen. Nicht, weil etwa die Sitzungen des Europaausschusses öffentlich abgehalten werden, sondern weil die Bürger durch öffentliche Debatten teilhaben am Geschehen im Landtag.

Auch die Migranten – dafür wirft die in Anatolien geborene Politikerin auch ihre Abstammung in die Waagschale. „Meine Wahl ist eine Botschaft an die Eingewanderten. Sie zeigt, Einwanderer können in diesem Land Verantwortung übernehmen.“ Und sie können auch dünn gesäte Posten bekommen: „Es gibt nur 16 Menschen in der Bundesrepublik, die so einen Posten haben, ich bin eine davon“. Darauf ist die Präsidentin unüberhörbar stolz.