Landtagspräsidentin Muhterem Aras verlangt von der türkischen Migrantengemeinde, sich von Ankara zu emanzipieren. Das ist möglich, wie ihr Lebensweg zeigt.

Stuttgart - Das Streben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach einem auf seine Person zugeschnittenen Präsidialsystem hat die türkischen Migrantencommunity in Deutschland gespalten. Muhterem Aras, Grünen-Politikerin und seit einem Jahr Landtagspräsidentin, verlangt ein klares Bekenntnis zu den Werten des Grundgesetzes.

 
Frau Aras, was bedeutet der Begriff Heimat für Sie?
Heimat vermittelt Zugehörigkeit, und aus Zugehörigkeit resultiert Teilhabe. Das ist ein emanzipatives Heimatverständnis. Heimat ist für mich nicht in erster Linie geografisch festgelegt, sondern ist dort, wo ich mit anderen die gleichen Werte teile. Heimat ist auch nicht vorgegeben, man kann sie finden. Deutschland war für mich ja nicht immer Heimat.
Sie kamen 1978 im Alter von zwölf Jahren zusammen mit Ihren Eltern und vier Geschwistern aus einem Dorf in Ostanatolien nach Filderstadt. Wann ist Baden-Württemberg zur Heimat für Sie geworden?
Das hat schon gedauert, ich würde sagen: Anfang der 1990er Jahre. Lange noch träumte ich von der Türkei – und was ich dort als Kind erlebt hatte. Irgendwann hatten wir ein Auto und verbrachten die Ferien in der Türkei.
Hatten Sie wie viele andere türkische Migrantenfamilien auch einen Ford Transit?
Genau, einen weißen Transit, da hatten wir alle sieben Platz mit dem Gepäck und den Geschenken für sechs Wochen Türkei im Sommer.
Wie lange dauerte die Fahrt?
Zwischen 20 und 30 Stunden nach Istanbul, und dann nochmals 20 Stunden ins Landesinnere, dort ging es damals auf den Straßen mühsam voran. Noch 1988, damals machte ich das Abitur, ging ich davon aus, eines Tages ganz in die Türkei zurück- zukehren. Deshalb habe ich Wirtschaftswissenschaften studiert, nicht Jura, was mich eigentlich mehr interessierte. Aber ich hatte immer den Gedanken: Was kann ich mit dem Studium in der Türkei machen. Ich war damals auch in türkeiorientierten Vereinen aktiv.
Das ist nicht ungewöhnlich: In der Fremde werden die eigenen Wurzeln oft besonders intensiv gepflegt.
Im ersten Urlaub führten wir türkische Tänze vor, die wir im Verein in Deutschland gelernt hatten. Unsere Familie in der Türkei war völlig platt, die kannte die Tänze kaum noch. Mit Deutschland begann ich mich erst in den 1990er Jahren bewusst auseinanderzusetzen, als eine Welle von rechtsextremistischen Terroranschlägen durch die Republik ging.
Die natürliche Reaktion wäre damals doch eine Abwendung von Deutschland gewesen: nichts wie weg hier.
Die erste Zeit hatte ich tatsächlich Angst. Ich ging immer vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause und kaufte mir sogar ein Pfefferspray. Aber dann beschloss ich, mir von diesen Rechtsextremisten, diesen Verrückten, dieses Land nicht kaputt machen zu lassen. In dieser Situation der Anfechtung empfand ich Deutschland plötzlich auch als mein Land. Das war eine Trotzreaktion. Ich begann dann, mich politisch zu engagieren, zunächst im Migrantenmilieu, später bei den Grünen.
Ist Ihr Engagement nicht die Ausnahme? Die türkische Migrantengemeinde bleibt doch sehr unter sich, schaut türkisches Fernsehen und bezieht sich auf türkische Politik.
Die Mehrheitsgesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, die Integration ermöglichen. Dazu gehört das Fördern – etwa mit Sprachkursen. Das wurde zu lange vernachlässigt. Dazu gehört aber auch das Fordern. Ich finde, die deutsche Gesellschaft ist in diesem Punkt ein bisschen zu. . . 
. . . zu undeutlich?
Ja. Unsere Werte sind im Grundgesetz glasklar festgelegt. Manche Themen aber werden nicht angepackt. Manchmal aus Bequemlichkeit – man scheut den Konflikt. Manchmal aus finanziellen Gründen. Denken wir an den flächendeckenden Ausbau des Islamunterrichts an den Schulen oder den muttersprachlichen Unterricht, den man schon zu lange den Konsulaten überlässt. Das Erlernen der Muttersprache ist für die Identitätsbildung wichtig, aber es war falsch, dies den türkischen Konsulaten zu überantworten, die immer für ein paar Jahre Lehrer aus der Türkei holen. Dieser Unterricht gehört unter Aufsicht des Kultusministeriums. Ich sehe auch nicht ein, weshalb man die Religionsfreiheit der Eltern über das Wohl der Kinder setzt, indem Mädchen vom Schwimmunterricht befreit werden. Das sind Kinder dieser Gesellschaft. Wie sollen sie hier heimisch werden und sich mit den Werten dieser Gesellschaft identifizieren, wenn diese Werte nicht benannt werden? Und wer hier lebt, muss sich zu diesen Werten bekennen.
Die große Zustimmung, die der türkische Präsident Erdogan in der hiesigen Migrantencommunity erfährt, deutet nicht auf deren starke Beheimatung in Deutschland hin.
Mir fehlt das Verständnis für Menschen, die hier von den demokratischen Werten profitieren und dann einem autokratischen Politiker hinterherlaufen, der genau diese Rechte im eigenen Land mit Füßen tritt. Ein Erklärungsversuch: Die übergroße Mehrheit der Türkischstämmigen fühlt sich hier insgesamt wohl, dennoch empfinden sich viele als Bürger zweiter Klasse. Das merken sie zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Und dann kommt dieser Autokrat Erdogan und vermittelt diesen Menschen das Gefühl der Wertschätzung. Er gibt ihnen in gewisser Weise Heimat.
In den Moscheen wird eher gegen die offene Gesellschaft gepredigt.
Das können wir nicht hinnehmen. Die Kinder lernen morgens in der Schule, was Demokratie ist. Und dann hören jene Kinder, die in die Moschee gehen, dort nicht selten was ganz anderes. Diese Form von Gehirnwäsche ist wirklich fatal.
Viele Moscheen zählen zum Einflussbereich der Ditib, eines Vereins, der von der türkischen Religionsbehörde gelenkt wird.
Ich bin für Dialog. Wir dürfen aber vor lauter Diplomatie nicht versäumen zu sagen, was geht und was nicht. Wenn Ditib hier Menschen ausspioniert, muss man das abstellen. Es kann doch nicht sein, dass Menschen hier in der dritten Generation leben und Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Ihnen müssen wir den Rücken stärken. Denunziation ist nicht hinnehmbar. Es liegt an der Ditib, ob sie sich von Ankara emanzipieren kann. Die Imame kommen in der Regel aus der Türkei und sind Beamte des türkischen Staats. Dessen Präsident Erdogan sagt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau verstoße gegen die Natur: Wie soll dann der Imam hier für Gleichberechtigung von Mann und Frau eintreten? Das beißt sich doch. Deshalb muss die deutsche Politik sagen: Schluss mit dem Import von Imamen, wir regeln das selbst.
Es gibt die Religionsfreiheit.
Natürlich, aber die Ditib-Moscheen müssen garantieren, dass sie keine Imame aus der Türkei holen. Und sie müssen ihre Finanzen offenlegen, um zu zeigen, dass sie nicht von der Türkei bezahlt werden. Das wären schon zwei Kriterien, die belegen, dass sie sich von der türkischen Staatspolitik emanzipieren. Dazu erwarte ich ein klares Bekenntnis zur offenen Gesellschaft.