Im Wahlkampf ist auch über die Volksseele der Niedersachsen gesprochen worden: Sturmfest undbodenständig seien sie, daher gewappnet gegen Populismus. Wie „ticken“ die Leute zwischen Küste und Harz? Gastautor und Niedersachse Detlef ­Sieloff hat die Antwort.

Hannover - So trefflich wie der Dichter Arno Schmidt („Zettels Traum“) hat es keiner formuliert. „Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt, ich war oft genug in Hannover.“ Genau! Wer Hannover an der Leine gesehen hat, kann sich das Städtchen am Hudson im Grunde genommen schenken. Unser Central Park heißt Eilenriede, unser Manhattan ist das Ihme-Zentrum, und eine Börse haben wir auch. Seit einst Gerhard Schröder seinen Kanzlerurlaub in Berlusconis Italien aus politischen Gründen bastamäßig stornierte, haben wir den Sommer am Maschseestrand wieder zu schätzen gelernt. Immerhin haben wir den Leibniz-Keks erfunden, und ein bedeutender Philosoph gleichen Namens hat unserer Stadt den Eintrag auf der Weltkarte des Geistes für alle Zeiten gesichert.

 

Eigentlich also tragen wir die Sonne im Herzen. Auch wenn wir das nur diskret rauslassen, um keine Neidgefühle zu wecken. Deshalb erwidern wir auf die Frage, wie es uns gehe, nur ein kurzes „Muss ja!“. Natürlich geht es uns sehr gut. Und das knappe Urteil „nicht schlecht!“ bedeutet allerhöchstes Lob für unsere Mitmenschen (die vielleicht ein wenig mehr Euphorie erwartet hatten). Mit dem gleichen Understatement mäkelt der Hannoveraner gern an seiner Stadt herum. Aber wegziehen? Würde er freiwillig nie.

Beleidigungen steckt der Niedersachse locker weg

Nun gibt es natürlich auch Miesmacher wie etwa das Lästermaul Harald Schmidt. Der befand, Hannover sei nicht der Arsch der Welt, aber man könne ihn von hier aus ganz gut sehen. Ja, das stimmt. Wenn man den Blick nach Südwesten richtet, etwa in Richtung Nürtingen, wo Schmidt aufgewachsen ist. Auch der Arzt und Dichter Gottfried Benn, der einige Zeit in Hannover lebte, muss einen rabenschwarzen Tag erwischt haben, als er lamentierte: „Schlechtes Klima, keine Landschaft, flach alles, riesig öde.“ Öde? Langweilig? Pfffh!

Nun ist das so: Die Schönheit der Leere, die Attraktivität des Nichts erschließen sich nur dem geschulten Auge. Das über weite Strecken flache, weite Niedersachsen bietet Reize, die eben etwas Entdeckerfleiß erfordern. Denn kaum ein deutsches Bundesland ist landschaftlich so vielfältig und abwechslungsreich: Wer hat schon kilometerweite weiße Sandstrände – auf den Ostfriesischen Inseln – und schneeweiße Abhänge – im Harz, unseren Voralpen – zu bieten? Das Wattenmeer ist die Kinderstube der Nordsee. Auf den saftig-grünen friesischen Wiesen gedeihen prachtvolle Milchkühe (wer keine Milch mag: ein prächtiges Bier wird dort auch gebraut). Wie überhaupt das Bierbrauen im mittelalterlichen Einbeck eine kulturelle Blüte erlebte. Erst später, ein wenig neidisch geworden, kauften die Münchner einen hiesigen Bierbrauer ein, der sie in die Geheimnisse des Starkbiers einweihte. Dieses Prinzips des Abwerbens, Einkaufens und Kopierens hat sich bekanntlich bis heute im bayerischen Profifußball erhalten.

„Niedergebirge beginnen hier bei 169 Metern“

Aber wieder zurück nach Niedersachsen. Auf den Obstwiesen an der Unterelbe mit ihren annähernd drei Millionen Bäumen wachsen Kirschen, Äpfel, Pflaumen und Birnen, was vor allem zur Blütezeit im Frühjahr Tausende Touristen ins Alte Land zieht. Zur Heideblüte im Spätsommer und Frühherbst erklimmen viele Menschen den Wilseder Berg, mit 169 Metern immerhin ein „Niedergebirge“.

Die karge, aber umso eindrucksvollere Moorlandschaft um Worpswede bei Bremen hat im vorigen Jahrhundert viele Maler (wie Paula Modersohn-Becker) und Schriftsteller (wie Rainer Maria Rilke) magisch angezogen. Und die lieblichen Schönheiten des Weser- und Leineberglands dürften auch den Reisenden nicht verborgen geblieben sein.

Es gibt auch wunderschöne mittelalterliche Städte in Niedersachsen, und dabei ist nicht alles Fachwerk, was glänzt. So besticht das einst durch die Salzgewinnung reich gewordene Lüneburg durch beeindruckende Bauten der Backsteingotik. Eine Reise wert sind – neben vielen anderen auch – die Altstädte von Stade, Osnabrück, Celle, Rinteln, Hameln und Goslar, Göttingen natürlich nicht zu vergessen.

Kein anderes Bundesland hat mehr Nachbarländer als Niedersachsen, und so bleibt festzuhalten: Wir 7,948 Millionen Niedersachsen (Ostfriesen, Oldenburger, Emsländer, Hannoveraner, Braunschweiger, Ostvertriebene und Spätaussiedler, die Zugewanderten und Flüchtlinge nicht zu vergessen) sind von Deutschen, Niederländern und Nordseewellen umzingelt, und gelegentlich werden wir auch von der Flut überrascht.

Die jahrhundertelange Völkerwanderung – noch heute ziehen in Nord-Süd-Richtung (A 7) Skandinavier und Nordfriesen, in Ost-West-Richtung (A 2) Polen und Litauer durch unser Land – hat seit je eine gewisse Wehrhaftigkeit im niedersächsischen Volkscharakter ausgeprägt. Seit Jahrhunderten werden dem sturmfesten und erdverwachsenen Stamme Herzog Wittekinds Wildheit, Freiheitsliebe und trotzige Dickschädeligkeit nachgesagt.

Auch hier findet sich ein Land der Tüftler

Dass auch eine barbarische Rückständigkeit und Trunksucht zu unseren Eigenschaften zählen sollen, sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, ist aber längst widerlegt. Denn wir Fischer und Förster, Bauern und Torfstecher sind längst ein Land der Forscher und Tüftler geworden (das Motto lautet: „Niedersachsen: Immer eine gute Idee!“). Ha noi, seht euch fei vor, ihr Schwoabe!

Wir bauen zuverlässige Autos, die jetzt auch immer öfter die Abgaswerte einhalten. Wir lassen riesige Traumschiffe durch die Tiefebene gleiten. Und auch wenn unsere Landsmannschaft im Inneren durch regionale kulturelle Unterschiede (Hannover 96, Eintracht Braunschweig) und Sprachgrenzen (Hochdeutsch, Plattdeutsch und Saterfriesisch) getrennt ist, wir Niedersachsen stehen zusammen. Sicher, wir sind demokratisch gesinnt und sind jetzt auch wieder zur Landtagswahl gegangen.

Aber ein Teil unseres Herzens schlägt welfisch-monarchistisch. Das rührt noch aus der Zeit her, als das Haus Hannover die englischen Könige stellte (von 1714 bis 1837). Und das hat sich noch verstärkt, seit unser scheuer Prinz Ernst August, der unsere Stammeseigenschaften archetypisch verkörpert, eine glanzvolle Allianz mit Prinzessin Caroline von Monaco eingegangen ist. Die Welfen haben uns übrigens nicht nur Schlösser und Schlagzeilen, sondern auch den Welfenpudding geschenkt, eine Art weißes Nichts mit einer leuchtend gelben Weincreme drüber.

Ansonsten haben wir zur abendländischen Kultur noch ein Oldenburger Grünkohlgericht beigesteuert, das mit Pinkel (einer Brägenwurst) serviert wird. Dazu empfehlen wir eine Lüttje Lage, eine Art cerebralen Doppelschlag aus Bier und Korn. Bei einem solchen Anlass wurde übrigens vor Jahren in Hannover die Politik der ruhigen Hand entwickelt. Und damit wollen wir es bewenden lassen.

Über den Gastautoren: Der Niedersachse Detlef Sieloff hat lange Jahre als Politikredakteur für die „Hessische/Niedersächsische Allgemeine“ in Kassel gearbeitet. Er lebt heute in Hameln an der Weser.