Wir beschreiben die Ausgangslage in allen vier Stuttgarter Wahlkreisen und stellen die Kandidaten der sechs aussichtsreichsten Parteien vor. Dieses Mal: Wahlkreis Stuttgart I

Stuttgart - Von allen 70 Kandidaten, die die Grünen in Baden-Württemberg aufgestellt haben, dürfte Muhterem Aras, die Steuerberaterin mit anatolischen Wurzeln und der Heimat Stuttgarter Westen, während der Kampagne den niedrigsten Blutdruck haben. Auf Anhieb hatte sie 2011 im Innenstadtwahlkreis Stuttgart I das beste grüne Ergebnis im Land geholt. In konkreten Zahlen bedeutete das 42,5 Prozent oder 30 115 Stimmen. Das Statistische Amt hat das Aras-Ergebnis „wahlhistorisch beispielhaft“ genannt wegen des Zuwachses von 18,6 Prozentpunkten gegenüber 2006, wegen der höchsten Zuwächse von allen Wahlkreisen und wegen des auch heute beruhigend wirkenden Rekordabstandes zur CDU von 15,6 Prozentpunkten.

 

Derzeit spricht nichts dafür, dass ihr die weithin unbekannte Nachfolgerin von Andrea Krueger, die Bildungsexpertin Donate Kluxen-Pyta, den Sieg streitig machen könnte. Im Gegenteil: die Grünen liegen landesweit in der jüngsten Umfrage sogar vor der CDU, die keine Großstadtpartei mehr ist, auch wenn sie bei der Gemeinderatswahl 2014 Boden gut gemacht hat, und eher für Ergebnisse unter dem Landesschnitt steht. 2011 lag die Stuttgarter Union mit 31,5 Prozent um 7,5 Punkte darunter.

Stimmenhochburg der Grünen

Im Wahlkreis I holten die Grünen in zwei Wahlbezirken sogar die absolute Mehrheit. Er ist seit deren ersten Auftritt 1980 die Stimmenhochburg der Grünen – obwohl das erste (Zweit)-Mandat damals auf den Fildern errungen wurde. Ein urbanes Klientel wohnt in der Innenstadt, viele Alleinerziehende, Migranten und Studenten. 2011 kam neben den Sachthemen wie Bildung, Wohnungsmangel und Verkehr Stuttgart 21 und der unverhältnismäßige Polizeieinsatz als Streitthemen hinzu.

Den Verantwortlichen die rote Karte zu zeigen, war extrem ausgeprägt. In Mitte stieg die Beteiligung um 19,2 Punkte, wovon vor allem die Grünen profitierten. Unerwartet deutlich verlor dagegen die CDU, die 1976 dort einmal nur knapp die absolute Mehrheit verpasste und mit Ausnahme von 2001 – damals holte der Mietervereinsvorsitzende Rolf Gaßmann das Direktmandat für die SPD – an der Spitze lag. Der Verlust von 4,9 Prozentpunkten gegenüber 2006 und damit nur noch ein Stimmenanteil von 26,9 Prozent bedeuteten das schlechteste Ergebnis bei Landtagswahlen seit 1956.

Abwärtstrend der SPD

Bei der SPD setzte sich der langfristige Abwärtstrend fort, für sie bedeutete 2011 ein neuer Tiefpunkt seit 1952. Die überdurchschnittlichen Verluste in Stuttgart im Vergleich zum Land (minus 2,1 Punkte) und im Regierungsbezirk (minus 2,8 Punkte) nahmen den Genossen die Chance auf Zweitmandate. Mit ausschlaggebend für das desaströse Ergebnis im Wahlreis I von 17,5 Prozent war der Streit um S 21, der keine Partei so spaltete wie die SPD.

Ironie der Geschichte: Mit dem heutigen Kreisvorsitzenden Dejan Perc vertrat sogar ein Projektgegner die Genossen. Er kann für sich in Anspruch nehmen, mit minus 7,4 Prozentpunkten Verlust gegenüber 2006 den höchsten Verlust der SPD in allen 70 Wahlkreisen eingefahren zu haben. Ihn ersetzt dieses Mal ein neues Gesicht: Die Rechtsanwältin Stefanie Brum, die sich bestens in der Kultur- und Kreativwirtschaft auskennt.

FDP auf ihrem Tiefststand

Wie die SPD hat auch die FDP vor fünf Jahren einen neuen Tiefststand erreicht. Mit 6,1 Prozent halbierte sich beinahe der gute Wert von 2006. Daraus resultierte auch der Verlust des Zweitmandats, das der Kreispartei bis dahin auch finanziell gut getan hat. Der Kreisvorsitzende Armin Serwani hatte im Wahlkreis I das Stuttgart-Ergebnis erreicht. Dieses Mal erhofft sich Stadtrat Michael Conz ein besseres Resultat. Im Landestrend werden den Liberalen mehr als fünf Prozent zugetraut. Die Linkspartei scheint in diesem Wahlkampf wie die SPD wegen des Duells zwischen Grün und Schwarz in eine Nebenrolle gedrängt zu werden. Neben dem Bundesvorsitzenden Bernd Riexinger haben sie auch lokale Prominenz nominiert: SÖS-Linke-Plus-Stadtrat Hannes Rockenbauch tritt mit einem Ticket der Linkspartei an. Bisher nicht auf dem Schirm war die rechtspopulistische AfD. Ihr wird deutlich mehr zugetraut als den „Republikanern“, die 2011 auf 0,9 Prozent gekommen waren.

Muhterem Aras, Grüne

Muhterem Aras ist für eine größere Bildungsgerechtigkeit.Grüne Grüne
Muhterem Aras wurde in einem Dorf in Anatolien geboren und kam 1978 mit Eltern und Geschwistern nach Filderstadt. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt seit 1989 im Stuttgarter Westen. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und führt seit 1999 ein Steuerberatungsbüro. Mitglied bei den Grünen ist sie seit 1992, insgesamt saß sie zwölf Jahre im Gemeinderat, vier Jahre lang war sie Fraktionschefin. Aras sagt, sie sei gerne Stuttgarterin, weil die Landeshauptstadt weltoffen, innovativ und nachhaltig sei. Hier lebten Menschen aus mehr als 170 Nationen, die mehr als 120 Sprachen sprechen. Das Willkommenszentrum sei ein beliebter Ort der Begegnung, der „Stuttgarter Weg“ über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Damit das so bleibe, möchte sie weiter im Landtag bleiben, wo sie für Bildung, Integration und Finanzen zuständig ist. Die finanzpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Landtag sagt, in den vergangenen fünf Jahren sei für mehr Steuergerechtigkeit gesorgt worden. Die CDU habe in 58 Jahren nur zwei Haushalte ohne neue Schulden vorzuweisen, die aktuelle Regierung bereits vier, und dies trotz enormer Investitionen in die Zukunftsfähigkeit des Landes. Auf dem richtigen Kurs liege die grün-rote Regierung auch in der Bildungspolitik und in der Kultur. Ziel sei eine größere Bildungsgerechtigkeit.

Donate Kluxen-Pyta, CDU

Donate Kluxen-Pyta lehnt die grün-rote Schulpolitik ab. Lichtgut/Leif Piechowski CDU
Die 1961 in Köln geborene Donate Kluxen-Pyta schätzt, sie komme als Mutter von sechs Kindern einmal auf insgesamt 30 Jahre Schule – von der Einschulung der ältesten der Kindern 1995 bis zum erwarten Abschluss der Jüngsten 2025. An Praxis im Bildungsbereich mangelt es der Kandidatin nicht. Bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist sie folgerichtig in der Bildungsabteilung für Schulpolitik zuständig und in der CDU für dieses Thema Mitglied der Parteifachausschüsse in Land und Bund. Sie hat auch am Parteiprogramm mitgeschrieben. An der grün-roten Schulpolitik lässt sie kein gutes Haar. Der Wegfall der Grundschulempfehlung sei ein Fehler gewesen. Sie würde sie zwar nicht wieder einführen, aber eine gute Beratung der weiterführenden Schule verlangen. Die Realschule solle ein Teil des Zwei-Säulen-Systems bleiben, auch das Gymnasium müsse seine Funktion behalten. Bei der Gemeinschaftschule sei eine stärkere Differenzierung nötig, meint Kluxen-Pyta. Sie hat Philosophie, Geschichte und Islamwissenschaften studiert, wechselte dann in die Politikberatung, war für die CDU-Bundesgeschäftsstelle und dann für einen Abgeordneten tätig. Sie war acht Jahre Vorsitzende der CDU-Nord und zehn Jahre Bezirksbeiratsmitglied. Seit 2008 steht sie der Stuttgarter Frauenunion vor.

Stefanie Brum, SPD

Stefanie Brum sieht in der Digitalisierung eine große Chance.Lichtgut/Leif Piechowski SPD
Die selbstständige Rechtsanwältin Stefanie Brum ist in Niedersachsen geboren und lebt seit 1983 in Stuttgart, heute mit Mann und neunjähriger Tochter im Westen. Genossin ist die 45-Jährige seit 2012. Ihre Themenschwerpunkte, das zeigt ihre Internetseite, sind die Kultur- und Kreativwirtschaft sowie Digitales. Seit 2003 ist sie in diesen Bereichen tätigt. Sie betreut Kreative, Unternehmer und Agenturen. 2010 wurde ihr als eine der Ersten in Stuttgart der Fachanwaltstitel für Urheber- und Medienrecht verliehen. Bis 2010 war sie in einer Kanzlei tätigt, danach machte sie sich im Bohnenviertel selbstständig. Seit 2004 unterrichtet Stefanie Brum als Lehrbeauftragte an mehreren Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen. Sie gründete zudem selbst ein Institut, das Seminare und Workshops anbietet. Die Sozialdemokratie habe sie mit der Muttermilch aufgesogen, so die Kandidatin. Seit 2012 ist sie im SPD-Ortsverein West aktiv. Brum hebt die Bedeutung der Kreativwirtschaft fürs Land hervor: 230 000 Beschäftigte, 24 Milliarden Umsatz jährlich und eine Wachstumsrate von 3,3 Prozent. Die Stadt Stuttgart bilde den Mittelpunkt. Die Digitalisierung müsse als Chance begriffen werden, es bedürfe der digitalen Teilhabe in jedem Alter. Auch der Kulturbereich könne davon profitieren. Neue praktische Möglichkeiten für Bildung seien möglich. Die Vernetzung bringe Vorteile im Alltag.

Michael Conz, FDP

Michael Conz will die Polizei stärken.Lichtgut/Leif Piechowski FDP
Der Stuttgarter Michael Conz ist 49 Jahre alt und verheiratet. Als Beruf gibt er selbstständiger Unternehmer im IT-Bereich an. Er wohnt in Heslach und kam 2009 zum ersten Mal in den Gemeinderat. Nachdem er 2014 überraschend den Sprung ins Rathaus verpasste, belebt er seit Kurzem als Nachrücker wieder die Ausschusssitzungen. Conz ist auch stellvertretender Vorsitzender der Kreispartei sowie Stadtgruppenvorsitzender von Stuttgart Mitte-Süd. Seine Motivation für die erneute Bewerbung nach 2006: Damals sei der Wahlkreis I noch chancenlos gewesen; nachdem das Wahlrecht geändert wurde und nicht mehr die absolute Stimmenzahl entscheidend ist (und damit die Zahl der Wahlberechtigten), sondern das prozentuale Ergebnis, rechne er sich Chancen auf ein Zweitmandat aus. Seine Schwerpunkte sind der Wohnungsbau und die Mittelstandspolitik, Bürgerrechte und der Datenschutz. Das Land brauche neue und sanierte Straßen, der Autofahrer weniger Beschränkungen (keine Einführung eines allgemeinen Tempolimits). Conz steht zu den FDP-Forderungen einer Teilprivatisierung des Flughafens und der Landesbank. Er will die Polizei stärken, eine transparentes System der Zuwanderung und schnellere Asylverfahren. Er plädiert für die Öffnung der zivilen Ehe für alle Paare und eine Abschaffung des Alkoholverkaufsverbots ab 22 Uhr.

Alexander Beresowski, AfD

Alexander Beresowski kritisiert „rechtswidrig geöffnete Grenzen“.Lichtgut/Leif Piechowski AfD
Alexander Beresowski ist 1965 in Odessa geboren worden. Als Berufe nennt er Kaufmann und Journalist. Auf der AfD-Homepage erklärt der Bewerber: „Ich bin nicht deshalb aus der UdSSR ausgewandert, um mich eines Tages in der EUdSSR wiederzufinden.“ Seine Hauptanliegen seien die Reduzierung der EU-Bürokratie, „die Verhinderung weiterer Rechtsbrüche der etablierten Parteien und letztlich eine Rückkehr des gesunden Menschenverstands in die Politik“. Als ehemaliger Bürger der UdSSR habe er vieles am eigenen Leib erfahren müssen, was in einem Staat schiefgehen könne. Er habe vernünftige, funktionierende Strukturen in einem Rechtsstaat wie Deutschland schätzen gelernt. Das habe sich in den vergangenen 20 Jahren aber zum Schlechten verändert. Beresowski moniert einen Verlust der Meinungsfreiheit, das erinnere ihn an seine Heimat. Wer bei „ wesentlichen Regierungsentscheidungen nicht auf Linie“ sei, werde durch „gnadenlose öffentliche Ächtung bestraft“. Er kritisiert etwa „rechtswidrig geöffnete Grenzen“, „teilweise aktiv geförderte Islamisierung“, die vermeintlich „alternativlose“ Euro-Rettung sowie „die Frühsexualisierung unserer Kinder durch fragwürdige grün-rote Schulexperimente und das unsägliche sogenannte Gender-Mainstreaming“. Diese Eingriffe dürften nicht ohne vorherige Volksabstimmung erfolgen. Dafür werde er sich einsetzen.

Hannes Rockenbau, Linke

Hannes Rockenbauch fordert stärkere Bürgerbeteiligung.Lichtgut/Max Kovalenko Linke
Hannes Rockenbauch ist nicht erst seit der bundesweit beachteten Schlichtung der bekannteste Gegner von Stuttgart 21. Er war 2011 im OB-Wahlkampf Gegenspieler von Fritz Kuhn (Grüne) und holte zehn Prozent. Seit 2004 sitzt er im Gemeinderat – erst alleine und mittlerweile als Vorsitzender der achtköpfigen Fraktionsgemeinschaft von SÖS-Linke-Plus. Dort setzt er sich vor allem für soziale, ökologische und nachhaltige Politik ein und fordert seit Jahren eine stärkere Bürgerbeteiligung sowie mehr Bürgerentscheide. Seine Gegenspieler sind der Finanzbürgermeister Michael Föll, die Landesbank und die EnBW. Für die Linke tritt er im Landtagswahlkampf als Parteiloser an. Für den Fall, dass es die Linken in den Landtag schaffen würden, würde er sie dort ebenfalls als Parteiloser unterstützen. Rockenbauch ist 35 Jahre alt, verheiratet und Vater einer Tochter. Der Ingenieur ist momentan als akademischer Mitarbeiter an der Universität Stuttgart beschäftigt. Rockenbauch beklagt, dass die etablierten Parteien der Autoindustrie und den Investoren ständig Vorfahrt gewährten. Man brauche eine Politik, „die sich nicht im anonymen parlamentarischen Alltagstrott verliert, sondern die außerparlamentarischen Bündnisse stärkt“. Nur über die Emanzipation und Selbstbestimmung der Menschen sei ein Leben ohne Ausbeutung von Mensch und Natur möglich.