Am Sonntag ist Landtagswahl. Wir beschreiben die Ausgangslage in allen vier Stuttgarter Wahlkreisen und stellen die Kandidaten der sechs aussichtsreichsten Parteien vor. Heute: Wahlkreis Stuttgart II, in dem weniger als 300 Stimmen das Zünglein an der Waage waren.

Stuttgart - Eigentlich ist es egal, welche Wahl gerade ansteht – die Filder mit ihren bildungsbürgerlichen Wohngebieten und eher älterer Einwohnerschaft auf der einen und den Universitätsbezirken Hohenheim und Vaihingen auf der anderen Seite, sind zuletzt immer heiß umkämpft gewesen. Vorbei sind allerdings die Zeiten, als die FDP mit Ergebnissen jenseits der 20-Prozent-Marke um die Vorherrschaft mit stritt. Im Wahlkreis II sorgt allein der Zweikampf zwischen Grünen und CDU für die Würze.

 

Dafür stehen die Kandidaten mit ihren steilen Thesen: für die Grünen Verkehrsminister Winfried Hermann, für den der Abgeordnete Nikolaus Tschenk den Platz räumte. Hermann sagt, Umgehungsstraßen gehörten in die Mottenkiste. Die für die CDU antretende ehemalige Stadträtin Stefanie Schorn ist dagegen überzeugt, dass mehr Straßen nicht mehr, sondern weniger Staus bringen würden. Sie muss allerdings damit rechnen, dass ihr am rechten Rand der Hochschulprofessor Dirk Stroeder von der AfD Stimmen abnimmt.

Früher war der Wahlkreis fest in CDU-Hand

„Bildung und unsere wirtschaftliche Entwicklung, das ist es was zählt“, hatte 2011 der Unions-Kandidat Thomas Bopp noch kurz vor der Landtagswahl die Konzentration auf Sachthemen gefordert, doch da war der Zug für die CDU schon abgefahren. Fukushima und die Auseinandersetzung um Stuttgart 21, deren Protagonist Bopp als Regionalpräsident in besonderem Maße ist, haben für die Niederlage gegen die Grünen und deren Kandidaten Werner Wölfle gesorgt. Dabei war der Wahlkreis früher fest in CDU-Hand gewesen. Seit 1976 hatten die Konservativen auf den Fildern nicht nur alle Direktmandate geholt (Hildegard Schwigon, Gerhard Mayer-Vorfelder und Christoph Palmer), sondern auch immer den größten Abstand von allen Stuttgarter Wahlkreisen zur zweitplatzierten Partei erreicht. 1992 und 1996 reichten „MV“ bescheidene 33,8 und 33,7 Prozent, weil die SPD schon damals schwächelte und die Grünen noch schwach waren.

Hinter dem Abgeordneten und Ratsfraktionschef Wölfle zu landen, der noch im selben Jahr nach seiner Wahl zum Verwaltungsbürgermeister in Stuttgart seinen Platz für Tschenk räumte, war sogar für die zurückhaltend formulierenden städtischen Statistiker eine „kleine Wahlsensation“ – Bopp und Wölfle trennten nur 299 Stimmen. Schließlich war der Abstand zu den Grünen noch 2006 mit 21,2 Prozentpunkten höher gewesen als deren damaliges Ergebnis (16,8 Prozent). Und dann das: Während Bopp 4,2 Prozentpunkte verlor und auf 33,8 Prozent kam, holten die Grünen ihr drittbestes Ergebnis im Land – ein Plus von 17,4 Prozentpunkten bedeuteten am Ende 34,2 Prozent. Kein Trost für Bopp, dass er über dem Landesschnitt und dem Stuttgart-Ergebnis seiner Partei lag und in Möhringen und in Sillenbuch Stimmenkönig wurde. Wölfle siegte in Birkach, Degerloch, Plieningen und Vaihingen.

Für die SPD geht es seit den 70-ern abwärts

Für die SPD gibt es auf den Fildern seit den 70-er Jahren – mit einer Ausnahme 2001 – nur eine Richtung: nach unten. Mit 41,3 Prozent holte Joachim Schröder 1972 das Direktmandat für die Genossen. 2011 stellte die SPD den weithin unbekannten Max-Planck-Doktoranden Matthias Tröndle als Zählkandidaten auf. Zählbares kam aber nicht heraus. Die Sozialdemokraten, die bis 2001 regelmäßig ein Zweitmandat erringen konnte, erinnert sei an Helga Solinger und Ruth Weckenmann, fiel um 4,4 Prozentpunkte auf 19,1 Prozent zurück. Immerhin: der Rückgang war der geringste in den vier Stuttgarter Wahlkreisen – aber eben auch der neunthöchste bei der SPD in allen 70 Wahlkreisen im Land. Dieses Mal versucht sich der ehemalige Stadtrat mit türkischen Wurzeln, Ergun Can.

Ein schwarzer Tag war der 27. März 2011 auch für die Liberalen und ihre dieses Mal im Wahlkreis III antretende Kandidatin Gabriele Heise – und das in ihrer Domäne. Überdurchschnittliche Verluste von 7,5 Prozentpunkten bedeuteten eine Halbierung des Ergebnisses auf 7,1 Prozent. Das war das schlechteste Abschneiden nach dem Krieg. Die Linkspartei spielte keine große Rolle, kam gerade einmal auf 2,6 Prozent, das waren 0,8 Prozentpunkte weniger als in der Gesamtstadt.

Winfried Hermann, Grüne

Winfried Hermann hat mit S 21 seinen Frieden gemacht. Foto: dpa
Winfried Hermann ist 1952 geboren und in Rottenburg am Neckar aufgewachsen. Seit 1982 ist er Mitglied bei den Grünen, im Landtag saß er von 1984 bis 1988 – damals reichten ihm ebenfalls im Filderwahlkreis 11,1 Prozent für ein Zweitmandat. Hermann war Lehrer am Untertürkheimer Wirtemberg-Gymnasium (1979 bis 1984), zwischen 1988 und 2011 war er Mitglied des Bundestags und als verkehrspolitischer Sprecher einer der bekanntesten Gegner von Stuttgart 21. Mit dem Tiefbahnhof hat er seit der Volksabstimmung seinen Frieden gemacht. Er kümmert sich um Verbesserungen – siehe drittes Gleis am Flughafen und Regionalhalt in Vaihingen. Für die Opposition im Landtag ist er ein rotes Tuch, vor allem deshalb, weil er beim Straßenbau einen Paradigmenwechsel vorgenommen hat und nun mehr Geld in die Sanierung von Fahrbahnen und Brücken pumpt, als neue Straßenabschnitte bauen lässt. Für Hermann, der sich im Wahlkampf „Bewegungsminister“ nennt, ist der Klimaschutz die zentrale Herausforderung. Dafür hat er ein umfangreiches Konzept zur Luftreinhaltung entwickelt – auf Druck der EU bis hin zu Fahrverboten. Hermann setzt auf eine umweltverträgliche Mobilität: stärkere ÖPNV-Förderung, eine intelligente Vernetzung der Verkehrsmittel und den Ausbau des regionalen Schienenverkehrs.

Stefanie Schorn, CDU

Stefanie Schorn hat ungezählte Veranstaltungen besucht. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Unabhängig vom Wahlausgang hat die 1975 geborene Stuttgarterin, die in Sillenbuch und damit direkt im Wahlkreis II wohnt, bereits einen klaren Sieg errungen: Niemand strahlt stadtweit so sympathisch von den Wahlplakaten wie Stefanie Schorn. Damit sie auch an der Urne reüssiert, hat sie hunderte Veranstaltungen besucht und setzt bewusst Kontrapunkte gegen ihren grünen Rivalen. Sie verbindet die Forderung nach neuen Straßen – Hedelfinger Filderauffahrt und Nordostring würden zu einer Minderung von Staus beitragen – mit den vom Minister angeordneten Feinstaubalarmen und bezeichnet die Warnungen als „verzweifelte Rat- und Ideenlosigkeit“. Ein starker Nahverkehr und ein gutes Radwegenetz dürften nicht gegen die Autofahrer gerichtet sein. Flächendeckendes Tempo 40 auf den Durchgangsstraßen und 120 auf Autobahnen lehnt sie ab. Die dreifache Mutter plädiert für eine „verlässliche Bildungspolitik“, Gemeinschaftsschulen dürften nicht einseitig bevorzugt werden. Schorn war als Bezirksbeirätin und als Stadträtin aktiv. 2004 organisierte sie den OB-Wahlkampf von Wolfgang Schuster. Ihr Mann Stephan Schorn war dessen langjähriger Sprecher. Die Kandidatin engagiert sich im kirchlichen und musischen Bereich und war sechs Jahre lang Vorsitzende des tus Eissport.

Ergun Can, SPD

Ergun Can fordert ein Einwanderungsgesetz. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
„Meine Herkunft – als in Instanbul geborener Schramberger – prägt meine Zukunft“, sagt der 57-jährige Familienvater Ergun Can. Er kam 1964 nach Deutschland, hat einen Abschluss als Diplom-Ingenieur und arbeitet als Key Account-Manager. Er war von 2004 bis 2014 Stadtrat in Stuttgart und ist Mitglied des Deutsch-Türkischen Forums, des Integrationsbeirats der katholischen Diözese und Vorstandsmitglied der Awo Filder. Can setzt sich für eine Stärkung des sozialen Wohnungsbaus ein. Es sei gut, dass seine Partei die Mietpreisbremse durchgesetzt habe. Er plädiert für die Schaffung eines klar geregelten Einwanderungsgesetzes und für die Verbesserungen von Integrationsmaßnahmen. Aufnahme und Schutz sowie ein faires Antragsverfahren für Asylsuchende sei aber weiter zu gewähren. Integration sei von zentraler Bedeutung fürs Gemeinwesen. Can sagt, die SPD wolle Lernstrukturen verbessern und die Qualität von Abschlüssen steigern. Neben den Gemeinschaftsschulen habe die SPD die Gymnasien und die berufsbildenden Schulen fest im Blick. Can fordert, die Leiharbeit dürfe nicht weiter zu einem Parallel-Universum innerhalb der Tarifpartnerschaft werden. Werkverträge seien vor dem Gesetz fragwürdig, Hier müsse die Spreu des Missbrauchs vom Weizen des Erlaubten getrennt werden.

Gabriele Reich-Gutjahr, FDP

Gabriele Reich-Gutjahr sieht die innere Sicherheit gefährdet. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
ist 1957 in Stuttgart geboren, aufgewachsen ist sie im Remstal. Maschinenbau und Obstgroßhandel prägten ihre Jugend. Nach dem Studium der Volkswirtschaft in München übernahm sie bei Bosch 25 Jahre Führungsaufgaben. 2008 gründete sie ihr eigenes Unternehmen und trat in die FDP ein. Von 2009 bis 2014 war sie ehrenamtliche Regionalrätin. Reich-Gutjahr sieht in Bedenken, wachsender Bürokratie, staatlicher Bevormundung, vernachlässigter Infrastruktur, abnehmender innerer Sicherheit eine Gefährdung für die Zukunft des Landes. Sie will sich einsetzen für „mehr Mut und Offenheit für Neues, Eigenverantwortung, Vielfalt in der Bildung, Investitionen, Infrastruktur, einen sicheren Rechtsstaat und ein gutes Miteinander in unserer international geprägten Gesellschaft“. Im Bildungsbereich brauche es die derzeitige Vielfalt an Schulformen, eine finanzielle Bevorzugung lehnt sie ab. Die Attraktivität der dualen Ausbildung müsse gestärkt werden. Sie fordert verbindliche Sprach- und Integrationskurse von Flüchtlingen, einen raschen Zugang zum Arbeitsmarkt und ein Einwanderungsgesetz. Gabriele Reich-Gutjahr plädiert für den Nordostring und die Filderauffahrt, für eine flächendeckendes Glasfasernetz, die Stärkung der Gründerkultur und für 1000 zusätzliche Polizisten.

Dirk Stroeder, AfD

Dirk Stroeder setzt sich dafür ein, die Kanzlerein abzuwählen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Dirk Stroeder, Jahrgang 1972, wohnhaft in Esslingen, Hochschulprofessor und Geschäftsführer einer Mittelstandsberatung in Stuttgart, sagt, immer weniger Bürger trauten sich heute, ihre Meinung zu äußern, weil sie befürchteten, in eine „bestimmte Ecke“ gestellt zu werden. Man dürfe sich aber nicht länger von „der selbst ernannten Sprech- und Denkpolizei der politisch Korrekten das freie Wort verbieten lassen“. Die Euro-„Rettung“ sei lediglich ein Aufschieben der unausweichlichen Konsequenzen einer fehlkonstruierten Kunstwährung. Aber das sei nichts gegen die Flüchtlingskrise. Wer echte Not leide, dem müsse geholfen werden. Über den Ort der Hilfe und die Art müsse aber gesprochen werden. Die Bundesregierung begehe aber fortgesetzten Rechtsbruch, die Grenzöffnung „mit anschließender unbegrenzter Einladung in alle Welt“ sei gesetzwidrig. Das wahre Ausmaß der Belastungen würde aber verschwiegen: in diesem Jahr weitere ein bis zwei Millionen Flüchtlinge und 60 bis 90 Milliarden Euro Kosten pro Jahr. Ein Familiennachzug sei dabei noch gar nicht berücksichtigt, genauso wenig wie ein unbegrenzter weiterer Zustrom in den Folgejahren. Die Bürger bräuchten einen Notausgang – die Landtagswahl mit guten Ergebnissen für die AfD. In der Folge müsste Kanzlerin Angela Merkel abgewählt werden.

Johanna Tiarks, Linke

Johanns Tiarks will Hartz IV abschaffen. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Johanna Tiarks wurde 1982 in Schwäbisch Gmünd geboren. Sie lebt mit ihrem Sohn in einer „Einelternfamilie“, wie sie sagt. 2003 absolvierte sie eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und studierte danach Pflege und Pflegemanagement sowie Pflegewissenschaften. Sie engagiert sich in Berufsverbänden und Arbeitsgemeinschaften. Tiarks hält es für nötig, Hartz IV abzuschaffen und stattdessen ein Modell der sanktionsfreien und bedarfsorientierten Grundsicherung einzurichten. Das Fehlen bezahlbarer Wohnungen für einkommensschwächere Menschen und Familien mit Kindern trage zu Armut und Kinderarmut bei.Nötig seien ein ernst gemeintes Wohnbau-Förderprogramm für mindestens 50 000 Wohnungen im Land; Landesförderprogramme für kommunale Wohnungsbaugesellschaften, die dauerhaft günstige Mieten garantierten, und eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft. Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden sei besonders hoch. Daher müsse der Unterhaltsvorschuss bei Bedarf bis zum 18. Lebensjahr des Kindes gezahlt werden. Alleinerziehende bräuchten eine echte steuerliche Entlastung. Fehlenden Krippen- und Hortplätze behinderten eine armutsfeste Erwerbstätigkeit. S 21 ist für sie ein Projekt zur Bedienung von Profitinteressen. Es werde den Schienenverkehr dauerhaft beschränken.

Hier stellt die StZ die Ausgangslage im Wahlkreis Stuttgart 1 und dessen Kandidaten vor.