In den USA will der Informationsdienst Nielsen die bislang der Öffentlichkeit unbekannten Zuschauerzahlen von Netflix messen. Und das ganz ohne Zustimmung des Streamingdienstes. Der Vorstoß bedroht eine Schutzzone der Qualitätsserien.

Stuttgart - Wenn am 27. Oktober die zweite Staffel der feinen Netflix-Serie „Stranger Things“ startet, werden die Fans in den sozialen Medien vermutlich vor Vergnügen jauchzen und die Profikritiker ihre Blattgoldformulierungen zum Einsatz bringen. Und irgendjemand bei Netflix wird sagen, man freue sich, so viele Menschen glücklich gemacht zu haben. Wie viele genau allerdings, davon wird nicht die Rede sein. Netflix gibt wie viele andere Streamingdienste auch keine Nutzungszahlen für einzelne Filme und Serien heraus. Die Quote, sonst in der Branche die böse Märchenhexe, die Feiern ruiniert, wird gar nicht erst in den Ballsaal gelassen. Das aber soll sich ändern. Der international agierende Informationsdienst Nielsen will künftig Netflix-Quoten ermitteln – gegen den Willen des Streaminganbieters.

 

In den USA gelten die von Nielsen ermittelten Quoten als Richtspruch aus den Höhen objektiver Marktforschung. In 44 000 Haushalten der USA hat die Firma Messgeräte installiert, wie man sie von anderen Quotenermittlern auch kennt. Doch so demografisch feingetunt, so repräsentativ für die Zuschauerschaft insgesamt seien die Testhaushalte nirgends sonst, hat Nielsen stets behauptet.

Der Ton verrät die Sendung

Wie der Infodienst den Zuspruch für Einzelangebote zunächst bei Netflix, später auch bei weiteren Streamingdiensten messen will, hat er in Umrissen sogar verraten. Man habe, heißt es, ein System entwickelt, um Sendungen an ihrer akustischen Signatur zu erkennen, und lausche darum in die Testhaushalte hinein. Sprich, man leitet den Klang aus dem Fernseher an einen Rechner weiter, der die Film- und Serientonspur dank einer cleveren Datenbank zuordnen kann. Für Musik gibt es Vergleichbares längst fürs Smartphone. Hört man irgendwo einen Song, hält man das Telefon hin und lässt Programme wie Shazam oder Soundhound die Klänge mit einer Datenbank abgleichen.

Nielsens Service aber ist keine individuelle Merkzettelhilfe. Er ist ein Generalangriff auf jene Schutzzone ohne Quotenterror, in der sich das neue Qualitätsserienwunder erst entwickeln konnte. Kabelkanäle wie HBO („The Wire“) und AMC („Mad Men“) und Streamingdienste wie Netflix („House Of Cards“) haben nach Einschätzung von Insidern mit ihren Edelserien selten früh viele Zuschauer erreicht. Aber die von Kritik und Fanzirkeln lauthals gelobten Projekte sorgten für die Allgegenwart der Anbieternamen – und für einen enormen Coolness-Faktor. Dank des Hypes um Serien wie „Breaking Bad“ oder, ganz aktuell, „The Handmaid’s Tale“ abonnieren Menschen den jeweiligen Streamingdienst, auch wenn sie dort letztendlich vor allem durchschnittliche Programme konsumieren. Ohne äußeren Quotendruck bekamen anspruchsvolle Serien auch die Zeit, sich weltweit und allmählich Zuschauer zu erobern.

Der Nimbus der hippen Dienste

Zwar kippen auch Netflix und Co. wenig Nachgefragtes aus dem Programm oder kappen Eigenproduktionen. Aber noch geschieht das diskreter und geduldiger als auf dem freien Fernsehmarkt, wo miese Nielsen-Quoten zum schmählichen Absetzen einer neuen Staffel führen können. Noch ist der erfolgsrelevante Nimbus der Streaminganbieter intakt, sie seien die hippen, mutigen Dienstleister einer neuen Konsumentengeneration und wüssten viel besser als die alten Saurier aus anderen TV-Epochen, was Menschen sehen wollen. Sollten die von Nielsen ermittelten Nutzungszahlen weit hinter dem zurückbleiben, was die Öffentlichkeit sich vorstellt, könnte der ganze Streamingboom Schaden nehmen.

Besonders verstörend am Vorstoß von Nielsen ist die kalkulierte Ungenauigkeit. Nielsen gibt selbst zu, mit seinem Audiosystem keine Mobilgeräte erfassen zu können. Wer in den 44 000 Musterhaushalten per Laptop, Tablet oder Smartphone auf Netflix zugreift, wird nicht erfasst. Gerade von der Kernzielgruppe der Streamer, den 18- bis 49-Jährigen, wird aber vermutet, sie schauten viel außerhalb ihres Zuhauses auf mobilen Geräten.

Die Neugier der alten Konkurrenten

Warum also erhebt Nielsen zweifelhafte Quoten, die vom gemessenen Sender auch gar nicht gewünscht werden? Zunächst wohl schlicht darum, weil Nielsen um die Bedeutung der Quote an sich kämpft. Von der bisherigen, nachgerade hysterischen Wertschätzung schneller Zuschauerdaten hängen Nielsens Umsätze ab. Außerdem möchten sich konkurrierende Streaminghäuser wie Netflix, Amazon und andere nur allzu gerne endlich gegenseitig in die Karten schauen.

Sollten die Quoten für die hochgelobten Edelserien der neuen Streaminganbieter ernüchternd sein, werden die altgedienten Networks wie ABC, CBS und NBC ihre teuer erkauften Nielsen-Zahlen wohl gerne mit der Öffentlichkeit teilen. Natürlich muss man auch eine andere Möglichkeit im Auge behalten: dass die Zahlen mancher Qualitätsserie besser sind als mancher Fan fürchtet. Das würden die Kunden von Nielsens Netflix-Zahlen aber kaum an die große Glocke hängen.