In der Kleinstadt an der Donau kümmern sich die Älteren um die Alten. Sie bekommen dafür Geld oder selber Hilfe, wenn sie eines Tages nötig ist. Ein humanitäres, verblüffend vernünftiges aber auch nach 25 Jahren noch zerbrechliches Genossenschaftsmodell.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Riedlingen - Der Staat, sagt Josef Martin, kriegt es nicht hin, wird es nie hinkriegen. Nämlich flächendeckend eine für alle bezahlbare und würdevolle Altenversorgung sicherzustellen. Eine Pflege, die Wahlmöglichkeiten garantiert für jene, die sich, wenn sie schwach werden, nicht in irgendeinem Altenheim ein Zimmer zuweisen lassen wollen und das letzte Bett in einer Ecke, das noch für sie aufgeschlagen wurde. Auf Ausschreibungen, die sich an professionelle Pflegedienstanbieter richteten, gebe es inzwischen oft schon gar keine Reaktionen mehr, sagt Martin.

 

So ist das jedenfalls in Riedlingen an der Donau: 10 000 Einwohner, davon bald ein Viertel im Rentenalter, Tendenz steigend. Das Zentrum sieht mit seinen Fachwerkbauten, Brunnen und Steinpflastern aus wie ein Museum mittelalterlicher Städteherrlichkeit. Zu viel idyllische Ruhe, viel zu wenige Arbeitsplätze, das finden nicht nur viele Beschäftigte, die noch bis vor Kurzem beim Topfhersteller Silit um ihre Jobs gebangt haben. Der Sozialdemokrat Josef Martin kennt alle Gefühligkeiten seiner Heimat. Er ist SPD-Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat. Und er hat seine eigene familiäre Geschichte. „Wir haben vier Kinder. Aber kein einziges ist mehr hier.“

Martin ist ein politischer Kopf und ein vorausschauender, zupackender Mensch. Im Jahr 1991 hat er die Seniorengenossenschaft Riedlingen gegründet, deren Mitglieder seither eine bestechende Idee leben: Die Älteren helfen den Gebrechlichen. Zum Lohn bekommen sie 6,80 Euro die Stunde oder eine Zeitgutschrift, die eingelöst werden kann, wenn die eigene Kraft einmal nicht mehr reicht. So etwas hatte es vor einem Vierteljahrhundert in der ganzen Bundesrepublik nicht gegeben.

130 Helfer versorgen im Raum Riedlingen derzeit 300 „Nutzer“, wie Martin sagt, um das Wort Patient zu vermeiden, weil es nicht in allen Fällen passt. In die professionelle Pflege steigt die Genossenschaft, die zum Paritätischen Wohlfahrtsverband gehört, nicht ein. Sie versteht sich als „Brücke“, die ins Offene führt und ein selbstbestimmtes Leben in ihrem vertrauten Umfeld ermöglicht, solange es geht.

Walter Rebholz arbeitet für seine Frau

Ohne Lebenssituationen wie die von Martin gäbe es die Genossenschaft nicht. Walter Rebholz, 71, seit vielen Jahren einer der Essensfahrer, bildet da keine Ausnahme. Am Küchenausgang des örtlichen Altenheims nimmt er die Thermoboxen für seine Tour entgegen und lädt sie in sein Privatauto: Brühe mit Fadennudeln, Fleischkäse mit Kartoffeln und Gemüse, Nachtisch. Er arbeitet nicht für das Geld, sondern für seine Frau. Schlaganfall vor drei Jahren. Jetzt nehmen sie eine Putzhilfe der Genossenschaft in Anspruch, die Arbeitseinsätze werden miteinander verrechnet. Daneben hat Walter Rebholz einen Überhang von 200 Stunden aufgebaut. Er hat vor drei Jahren einen Herzinfarkt erlitten und musste erfahren, dass Gesundheit keine lebenslange Selbstverständlichkeit ist. Sich selbst sagt er: „Wenn’s mal so weit ist und ich bin vielleicht dement: Nimm Hilfe an.“ Sollte er sich bis zum letzten Tag selber versorgen können, „dann bekommen meine Erben das Geld“. So sieht es die Genossenschaftssatzung vor.

Wenn die Essensausträger durch die Riedlinger Stadtteile fahren, hat Adelinde Munding in den Räumen der Tagespflege in der Gammertinger Straße schon Sitzgymnastik mit allen Senioren gemacht, die den Tag nicht zu Hause verbringen können oder wollen. Die resolute 59-Jährige hat immerzu ein Lächeln im Gesicht und eine ganze schwäbische Liederfiebel auf der Zunge. Neun Jahre lang hat sie ihre Eltern bis zum Ende gepflegt, das ist ein Teil ihrer Biografie. Danach machte sie in der Seniorengenossenschaft weiter, das war vor 15 Jahren. Sie kann sich nichts Schöneres denken, sagt sie. „Das ist wie eine Sucht.“

Fröhlich geht es zu, die Damen tragen frische Blusen und Schmuck, die Herren, am eigenen Tisch hübsch separiert, lassen ihnen die sonnigeren Sitzplätze an den Fenstern. Immer nur zu Hause „Sturm der Liebe“ gucken und sticken, das sei doch nichts, sagt eine der Frauen, die von der Leiterin der Tagespflege, Elisabeth Hennes, „Gäste“ genannt werden. Hier wird gebadet und geschlummert, gerätselt und geturnt, gesungen und gescherzt. Es ist der Job von Elisabeth Hennes, tiefer zu sehen. „Vor allem Männer verfallen oft in Altersdepression. Und die Familie kann nicht jeden Tag Animateur spielen.“ So lassen sich manche Gäste täglich morgens von zu Hause abholen. Andere, je nach Geldbeutel und seelischer Verfassung, nur ein Mal pro Woche.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen hilft Adelinde Munding beim Umzug in den Ruheraum. Sie schiebt eine Patientin – diesmal passt der Begriff – zu einem der Schlafsessel. Die Frauen kennen sich aus der Schulzeit, aber das weiß nur noch die Pflegerin. Die Patientin schreit auf, als sie vorsichtig aus dem Rollstuhl gehievt wird, Adelinde Munding trifft ein wild fuchtelnder Arm im Gesicht. Die Helferin stimmt ein Lied an. Die Patientin, von multipler Sklerose und Demenz gezeichnet, erkennt es, summt ein wenig mit, beruhigt sich sichtlich und schläft später ein.

Der alte Bankexperte kümmert sich um die Finanzen

Von der Wärme, die dankbare Blicke erzeugen können, spürt Eberhard Götz innerhalb seines Arbeitsalltags nicht so viel, schließlich hat er als Finanzvorstand der Genossenschaft andere Kernaufgaben. Er ist bis zum Ruhestand Vorstand und Prokurist einer örtlichen Bank gewesen, dann hat ihn Josef Martin um den Finger gewickelt, wie so viele Helfer hier. „Du gehst nicht 45 Jahre ins Geschäft und machst nachher nichts“, sagt der Bankfachmann. Die Organisation erzielt inzwischen einen Jahresumsatz von knapp einer Million Euro, das vergangene Jahr hat sie mit einem leichten Minus abgeschlossen. Rote Zahlen dürfen nicht zum Trend werden.

Auf eine Ehrenamtsentschädigung verzichtet der gesamte Vorstand seit Jahren. „Unser Geschäft ist nicht so gut kalkulierbar“, warnt Eberhard Götz. Zahlende Mitglieder sterben, und neue Kundschaft steht nicht immer sofort parat. „Der Pflegemarkt ist ein Riesenmarkt. Und er ist umkämpft“, sagt Eberhard Götz. „Wir müssen unablässig für die humanistische Idee der Genossenschaft werben, um sie vor dem Untergang zu bewahren.“

Das unternimmt vor allem Josef Martin, der Macher. Der Mann kennt keine Rast, den ganzen Tag lässt er sich hinterherrufen, am Ärmel zupfen, auf dem Mobiltelefon anklingeln. Seine Beamtenpension reiche ihm zum Leben, sagt er. Schon diverse führende Politiker hat er nach Riedlingen gelotst, zuletzt seinen Parteifreund, den Landtags-Fraktionschef Claus Schmiedel, und die Sozialministerin Katrin Altpeter. Die Politik müsse gucken, „dass das Mindestlohngesetz nicht unser bürgerschaftliches Engagement zum Ersterben bringt“, fordert er. Martins Elan und seine Ideen, sagen alle Mitstreiter, seien das Geheimnis des Erfolgs in Riedlingen. Er selber winkt ab. Seine Nachfolge innerhalb der Genossenschaft sei geregelt.

Immer wieder heimkommen

Ein paar Steinwürfe von der Tagespflege entfernt liegt das Reich von Michael Wissussek, dem Leiter der Demenztagespflege. Sie funktioniert nach anderen Regeln als die Gruppe der Gesünderen, kennt keine Wochenenden und muss dem Stigma begegnen, das über Menschen liegt, denen die Erinnerungen langsam entgleiten. „Es ist immer noch ein unglaubliches Tabuthema“, sagt der Leiter, der als Gelegenheits-Akkordeonspieler zur Genossenschaft stieß und sich als ausgebildeter Pflegedienst- und Heimleiter schließlich in ihr verwurzelt hat. Das Ableugnen der Krankheit sei um ihn herum besonders ausgeprägt, erzählt Wissussek, manche behaupteten in ihrem Bekanntenkreis, sie kämen nur zum Kaffeetrinken her. „Das ist okay, es hat hier jeder seine ganz eigene Begründung, warum er herkommt.“

Für Frau Lange, 86, ist die Demenztagespflege die große Möglichkeit, noch allein in ihrer Wohnung am Rand der Riedlinger Innenstadt weiterzuleben, wo ihre Puppen und Stofftiere aus Kindheitstagen das Sofa schmücken und Fotos der Söhne die Flurwände. Seit Jahren kümmert sich die Pflegerin Alexandra Schombara um Frau Lange, auf dem beschwerlichen Heimweg über Kopfsteinpflaster stützt sie ihre Patientin. Große Teile der Erinnerung sind gelöscht, aber das weiß Frau Lange genau: „Wenn Sie alleine sind, werden Sie verrückt.“

Alexandra Schombara guckt in den Briefkasten, drückt die Fahrstuhltaste, schließt die Wohnungstür auf, hilft aus dem Mantel. Dann sitzen die Frauen noch zusammen am Esszimmertisch, trinken ein Glas Wasser, plaudern, halten sich an der Hand. „Schlafen Sie gut“, grüßt die Pflegerin zum Abschied. „Bis morgen“, antwortet die lächelnde Frau Lange.