Am 10. März 2013 ging die Welt unter: Bei einem Hausbrand in Backnang verloren zwei Jungen ihre Mutter und sieben Geschwister. Heute leben sie bei ihrer Tante in Murr. Sie hat ihr Wort gegeben, die beiden nie im Stich zu lassen.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Murr - Der Koran hat die Flammen überstanden. Sein Einband ist schwarz vor Ruß, die Seitenränder sind teils versengt. Die heiligen Verse treten umso deutlicher neben der Schwärze hervor. Die Familie fand die Schrift des Propheten auf dem Wohnzimmerschrank. Sie darf nie unterhalb der Gürtellinie liegen, so ist es überliefert. Aus einem Schutthaufen vor dem zerstörten Haus konnte der elfjährige Can* noch sein verkohltes Nintendo-Spiel fischen. Es gab nur ein paar armselige Töne von sich. Alles kaputt.

 

In der Nacht auf den 10. März 2013, einen Sonntag, wurde bei einem Brand in der Backnanger Wilhelmstraße eine Familie ausgelöscht: eine 40-jährige türkische Frau und sieben ihrer zehn Kinder im Alter von sechs Monaten bis 16 Jahren. Das Feuer war im Obergeschoss des alten Hauses ausgebrochen. Die Opfer starben an Rauchvergiftung, später folgten die Flammen. Nur Can, dessen Onkel und Großmutter konnten gerettet werden.

Was der Junge von dieser Nacht weiß, welche Bilder wohl für immer in seinem Kopf kreisen müssen, ist sein Geheimnis. Er redet nicht darüber. Vielleicht irgendwann. Jetzt ist es noch zu früh. Sein fünfzehnjähriger Bruder Akin schlief, als das Unglück passierte, bei seinen beiden Cousins in Murr, wo jetzt sein neues Zuhause ist. Damals konnte er nicht wissen, dass er fortan immer auswärts schlafen würde, weil es seine Familie nicht mehr gibt. Damals konnte er nicht ahnen, dass dieser Abend der letzte sein sollte, an dem er ruhig in den Schlaf fand.

Uwe Knopf, 52, und seine Frau Aishe, 39, haben die Jungen in ihre Familie aufgenommen. Sie haben jetzt vier Kinder, zwei eigene und die beiden neuen Söhne. Ein paar Wochen vor dem Unglück hatte Aishes Schwester noch gesagt: „Wenn einmal irgendwas mit mir sein sollte, dann musst du dich um meine Kinder kümmern und Männer aus ihnen machen.“ Dieses Versprechen ist ihr heilig.

Die ersten Tage danach erlebte Aishe Knopf wie unter Betäubung. Wie einen Film. Die Trauerfeier in Backnang, den Flug in die Türkei, das Hotel, die Beerdigung. Dann der Alltag, der einen wieder anpackt, unbarmherzig, und einen zwingt, sich nicht fallen zu lassen. „Man weiß, es geht jetzt nicht um einen selber. Man muss stark sein. Man muss lachen. Man muss die Kinder hochheben.“

Die Behörden machten keine Schwierigkeiten

Akin zog gleich zu ihnen. Can wohnte die ersten Tage bei seiner Schwester, sie ist 18 und hat selber ein kleines Kind. „Es war immer klar, dass er auch zu uns kommt, dafür hätte ich alles getan“, sagt Aishe Knopf. Es klappte dann ohne große bürokratische Hindernisse. Obwohl die Wohnverhältnisse viel zu beengt sind, die knapp 90 Quadratmeter hinten und vorne nicht reichen. Der 18-jährige Mohammed Knopf hat ein eigenes Zimmer, der elfjährige Turgat Knopf teilt sich seine sechs Quadratmeter mit Can und Akin. Das Zimmer besteht im Grunde nur aus Matratzen. Dort liegen die Kinder wie in einem Flüchtlingslager.

Mohammed, der in der Nacht mit seiner Mutter zum Unglücksort gefahren ist, hat schwer gelitten. Er hat in der Zeit zum Glauben gefunden. Er ist bei einem Psychologen. Akin und Can lehnen das bislang für sich ab. Wenn die Traurigkeit ins Herz drängt, gehen sie auf den Balkon. „Wir können sie nicht zwingen“, sagt Uwe Knopf.

Er und Aishe sind ein ungewöhnliches Paar. In der Wohnung hängt das reich verzierte Goldwappen des Osmanischen Reiches neben einer Schwarzwälder Uhr. Sie kocht Arnavut Köftesi und Gaisburger Marsch. Er isst kein Schweinefleisch mehr, aber ein Gläschen Bier ist okay, da drückt sie ein Auge zu. „Man muss Kompromisse machen“, sagt er. Viele Bekannte prophezeiten vor der Hochzeit: Das klappt nie. „Aber jetzt sind wir schon seit 27 Jahren zusammen. Und wir führen eine gute Ehe, ich bin zufrieden“, sagt er.

Sie geben den Kindern ein Gerüst. Mit Strenge und Konsequenz. „Ich mache keine Unterschiede“, sagt sie. Gerade, weil man auf so engem Raum zusammenlebt, müsse es feste Regeln geben. In dem alten Backnanger Industriebau hatten die Kinder alle Freiheiten der Welt. Auf 240 Quadratmetern. In Murr an der Murr sieht das ganz anders aus.

Rote Rosen zum Todestag

Neulich hat Can eine Vier von der Schule nach Hause gebracht. Daraufhin gab es Playstation-Verbot. Turgut, der Professor in der Familie, hat vor einer Woche eine Zwei bis Drei geschrieben. Seitdem muss er ohne Smartphone leben. Um neun ist Nachtruhe im Kinderzimmer. Und wenn einer nicht mitspielt, ist am nächsten Tag eben schon um halb neun Zapfenstreich. Für alle. Akin muss jeden Tag 30 Minuten lesen, Uwe Knopf führt Buch darüber. Die Noten sind schon viel besser geworden. Wenn Can in Backnang bei seinen früheren Freunden ist, muss er sich daheim alle halbe Stunde telefonisch melden. Das nervt ihn zwar gewaltig. „Aber ich habe die Verantwortung für ihn“, sagt Aishe Knopf.

An den Geburtstagen der Toten beten immer alle zusammen. Am Todestag haben sie acht rote Rosen auf dem Balkon gepflanzt. An Muttertag vor einem Jahr hat jeder ein Herz ausgeschnitten und ins zerstörte Haus gelegt. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Das Leben geht weiter in der ehemaligen Lederfabrik. Der geplante Abriss des ganzen Komplexes wurde bald verworfen. Die Gebäudehülle blieb erhalten, Dach und Obergeschoss entstanden teils neu. Bis Ende des Jahres sollen die Wohnungen fertig sein, das türkische Lokal und der Getränkehandel ziehen auch wieder ein.

Für Akin ist nichts vorbei. Wenn er auf die Pinnwand mit den Fotos aller Toten schaut, kann er das immer noch kaum ertragen: Sibel, das Baby. Nevin, der Neugierige, beim Ausflug mit einem Fernglas. Ali, der Älteste, der Macher, der die Rasselbande im Griff hatte. Emre, der Mutige, in der Kletterwand. Merve, die Zweitälteste, mit ihrer kleinen Schwester im Arm.

„Es ist sehr schwer, ohne Mutter zu leben“, sagt Akin. Wenn er auf dem Feldweg nach Steinheim geht, hört er sie und Ali oft zu ihm sprechen. „Manche denken, das bilde ich mir nur ein. Aber es stimmt wirklich.“ Im Traum trifft er sie auch oft. Vor ein, zwei Uhr in der Nacht findet er selten Schlaf.

Akin trägt klobige Silberketten um den Hals und am Handgelenk, eine Baseballkappe auf dem Kopf. Er hört harten amerikanischen Rap und melancholische türkische Lieder. Er ist unerschrocken und kann gut reden, sagen seine Kumpels. Er ist etwas sprunghaft und sensibel, sagt der Sozialarbeiter, der ihn jede Woche besucht. Er ist ein Herzensbrecher, sagt seine Tante. „Akin“, mahnt sie ihn manchmal, „mach langsam, spiele nicht mit den Gefühlen von Mädchen.“ Früher hatte er Schlägereien, heute ist er ein anderer Mensch, sagt er selbst. „Ich will nur, dass mein Onkel und meine Tante glücklich sind.“

In Murr herrscht Struktur

Sein leiblicher Vater ist vor neun Jahren gestorben. Sein Stiefvater zog ein paar Monate vor dem Unglück aus. Seine Mutter musste sich um alles alleine kümmern, sie war oft überfordert. In Murr herrscht Struktur. Aber die Raumnot wird ein immer größeres Problem. „Ich habe kein eigenes Reich“, sagt Akin. Keinen Ort, wohin er sich zurückziehen kann, wenn der Schmerz kommt. Der Schmerz kommt als Stille.

Can wollte sich irgendwann das ausgebrannte Haus ansehen. Als er davor stand, begann er zu erzählen. Von Ali. Wie sie Tomaten auf Autos geworfen haben. Wie plötzlich ein Fahrer aus seinem Wagen stieg und sie verfolgte. Aber sie waren schneller. Ali und er. Wie er seiner vier Monate alten Schwester Sibel mal die Windeln wechselte und sie ihn nass machte. Oder einmal, als Oma kurz weg war, ist er mit Sibel auf dem Arm zum Drogeriemarkt gegangen. Als Oma zurückkam, waren sie schon wieder daheim.

„Can ist der Lustige in unserer Familie. Ein Clown. Ein Stimmennachmacher“, sagt Aishe Knopf. In den letzten Monaten ist er richtig in die Höhe geschossen. Er hat jetzt auch zwei Freunde in seiner neuen Schule gefunden. Und er ist zum Klassensprecher gewählt worden. Neulich hat er sich über Facebook mit seinen alten Kumpels in Backnang verabredet. Es war alles genauso wie früher, als alles noch normal war.

Aus dem Brand wurde ein Politikum

Danach war nichts mehr normal in Backnang. Journalisten zogen in den Ort ein, Dutzende Fernsehteams versammelten sich vor dem Unglücksort, die meisten waren aus Istanbul oder Izmir eingeflogen. Die NSU-Morde im Hinterkopf, wurde aus dem Brand bald ein Politikum. Mitglieder der türkischen Gemeinde überlegten, wie sie sich zur Wehr setzen könnten. Der türkische Botschafter erklärte, seine Landsleute fühlten sich unsicher in Deutschland und litten unter einem kollektiven Trauma. Vor dem Haus, vor den Schulen wurden Plüschtiere, Kerzen, Blumen, Briefe abgelegt. Am Totengebet nahmen 1000 Menschen teil, darunter hohe politische Vertreter beider Länder. Die Tatsache, dass die Opfer in der Türkei ein zweites Mal obduziert wurden, führte zu Irritationen. Baden-Württemberg führte die Brandmelderpflicht ein.

6000 Euro sind damals bei einer Sammlung in Backnang zusammen- gekommen. Uwe Knopf hat das Geld für die Jungen auf einem Sparkonto angelegt. Andere haben ihr Versprechen nicht gehalten. Haben sich nicht gekümmert. Sich nicht gemeldet. Fest zugesagte Spenden bis heute nicht an die Familie weitergegeben. Die Opfer alleingelassen.

Uwe Knopf sucht eine größere und bezahlbare Bleibe. „So geht es nicht mehr weiter, vor allem, wenn jetzt bald alle meine Jungs in der Pubertät sind.“ Am liebsten würde er ein älteres Haus kaufen. Er ist freiberuflicher Kaufmann, vertreibt Rest- und Sonderposten aller Art. Reich wird man da nicht. Und irgendwelche Zuschüsse kann er nicht erwarten. Es ist schwierig. Er will mit seiner Familie unbedingt in der Nähe von Murr bleiben. Hier haben die Kinder Fuß gefasst, hier kennt auch er die Leute: Sollte jemand die Jungs mal beim Rauchen sehen, würde er das gleich erfahren. „Man muss aufpassen. Ein falscher Freund, und schon kann man ganz schnell abrutschen.“

Er und seine Frau wollen die Kinder zu Menschen erziehen, die für andere da sind. Sie leben es vor: Aishe Knopf hat ihren kranken Vater zwei Jahre auf ihrem Wohnzimmersofa gepflegt. Als ihr Schwiegervater an Krebs erkrankte, spazierte sie bis zu seinem Tod täglich zu ihm nach Steinheim. Die Familie ist alles für sie. Wer zu dieser Familie gehört, ist nie allein.

Akin sieht sich längst nicht über dem Berg. „Ich glaube, da kommt noch was. Was, weiß ich nicht. Aber es ist nicht ausgestanden“, sagt er. „Man muss das Beste daraus machen“, sagt Turgut, der kleine Professor. „Ich will aus meinen Kindern fröhliche und gute Menschen machen“, sagt Uwe Knopf. Mehr kann man nicht wollen.

* Die Namen des Jungen und seiner Geschwister sind geändert.