Deutsche Verbraucher vergeuden jährlich im Schnitt 82 Kilo Nahrung. Zwei Drittel davon wären noch genießbar. Das Verhalten ist teuer und ethisch fragwürdig.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Alle drei Sekunden verhungert ein Mensch auf der Welt. 900 Millionen haben nicht genug zu essen. Dabei mangelt es keineswegs an Lebensmitteln. Allein in Deutschland werden jedes Jahr elf Millionen Tonnen weggeworfen. Das ist eine unvorstellbare Masse. Sie würde 275 000 Lastzüge füllen: eine Kolonne, die – Stoßstange an Stoßstange hintereinander aufgereiht – von Berlin bis in die russische Stadt Novosibirsk jenseits des Urals reichen würde.

 

Die Menge der nutzlos in den Abfall beförderten Lebensmittel haben Wissenschaftler der Universität Stuttgart jetzt für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erhoben. Anlass dafür ist die Vorgabe der EU-Kommission, die Lebensmittelverschwendung bis 2020 zu halbieren. „Es ist Zeit für einen Bewusstseinswandel“, sagt die zuständige Ministerin Ilse Aigner (CSU). „Jeder von uns kann einen Beitrag leisten, die Verschwendung wertvoller Ressourcen zu stoppen.“

Mehr als 60 Prozent landen bei den Küchenabfällen

Vor allem die Konsumenten sind da gefragt. Mehr als 60 Prozent der unnütz vernichteten Lebensmittel landen bei den Küchenabfällen. Fast 82 Kilogramm welker Salat, schrumpelige Äpfel, abgelaufenen Joghurt oder schimmelige Wurst wirft ein durchschnittlicher Deutscher im Jahr weg. Für eine vierköpfige Familie summiert sich das auf dieses Weise vergeudete Haushaltsgeld auf 940 Euro jährlich. Für sämtliche Verbraucher hochgerechnet sind das knapp 22 Milliarden Euro. Ein Großteil dieser Verschwendung wäre vermeidbar. Wie es dazu kommt, verdeutlicht eine Umfrage im Auftrag des Ministeriums, die bereits vor einem Jahr durchgeführt wurde. Demnach neigen vor allem Jüngere und Verbraucher der höchsten Einkommensklasse zum Wegwerfen. Während 17 Prozent der Konsumenten unter 30 einräumen, sie würden mehrmals in der Woche Lebensmittel in den Mülleimer entsorgen, sagen zwei Drittel der Rentner, das komme bei ihnen „so gut wie nie“ vor. Der Anteil derer, die mehrmals in der Woche Essbares zum Abfall werfen, ist in Haushalten mit weniger als 1500 Euro Monatseinkommen nur halb so groß wie bei Leuten, die das doppelte Budget zur Verfügung haben.

Ein Drittel der Gutverdiener kauf zu viel ein

Die meisten begründen ihre Wegwerfneigung mit abgelaufenen Haltbarkeitsdaten. Ein Drittel der Gutverdiener gibt aber zu, gelegentlich schlichtweg zu viel einzukaufen. Viele Ärmere beklagen, dass die Packungsgrößen im Supermarkt unangemessen seien. „In Deutschland wird viel zu viel weggeworfen, wertlos gemacht, vernichtet“, bemängelt Ministerin Aigner. Oft liegt das auch an mangelnder Aufklärung. So führe das auf Lebensmittelpackungen aufgedruckte Mindesthaltbarkeitsdatum oft zu Missverständnissen. Auch wenn das Datum abgelaufen ist, sind die etikettierten Waren oft noch lange genießbar. Nur leicht verderbliche Lebensmittel wie zum Beispiel Hackfleisch müssen mit einem Verfallsdatum ausgezeichnet werden, das ausweist, wann sie nicht mehr verzehrt werden sollten.

Aigner plant nun gemeinsam mit dem Lebensmittelhandel eine Aufklärungsaktion zum Mindesthaltbarkeitsdatum. Sie hält diese Information der Hersteller für sinnvoll. Die Ministerin werde nur vielfach „falsch interpretiert“. Das missverstandene Mindesthaltbarkeitsdatum ist auch nicht das Hauptproblem. Am häufigsten landen nämlich Obst und Gemüse beim Müll. Grünzeug, das durchaus noch verwertbar wäre, macht fast die Hälfte der vermeidbaren Lebensmittelabfälle aus.

Der Handel und Großverbraucher wie Kantinen, Gaststätten oder Hotels gehen mit Lebensmittel übrigens sorgsamer um als gewöhnliche Konsumenten. Das lassen zumindest Zahlen der Uni Stuttgart vermuten. Nach deren Hochrechnungen werden in Supermärkten und Läden jährlich 550 000 Tonnen Lebensmittel vernichtet. Das entspreche lediglich einem Prozent der umgeschlagenen Menge.

In professionellen Küchen werden dagegen 17 Prozent der eingekauften Lebensmittel vergeudet. Das sind insgesamt 1,9    Millionen Tonnen jedes Jahr. Bei    sich selbst vermag Ministerin Aigner keine ausgeprägte Wegwerfmentalität erkennen. „Bei meiner Arbeitsweise ist der Kühlschrank eher übersichtlich gefüllt“, sagt die CSU-Frau aus Oberbayern. Zudem versuche sie, möglichst alle Lebensmittel zu verwerten. Eines ihrer Lieblingsgerichte sei Semmelschmarrn – ein bajuwarisches Resteessen.

Großverbraucher gehen sorgsamer mit Lebensmitteln um

Die politische Konkurrenz hält Aigner jedoch keineswegs für vorbildlich. Statt aktiv zu werden, nutze die Ministerin das Thema Lebensmittelverschwendung zur „medialen Selbstdarstellung“, rügt die Sozialdemokratin Elvira Drobinski-Weiss, Abgeordnete aus Offenburg. Die Grüne Nicole Maisch kritisiert: „Sie schiebt alle Verantwortung und Schuld den Verbrauchern zu.“ Diese würden, so die Linke Karin Binder aus Stuttgart, „gezielt zu unnötigen Käufen verleitet“.