Schach-Ikone Garri Kasparow ist erfolgreich ans Brett zurückgekehrt. Eigentlich jagt das Genie aus Russland keine Könige mehr, sondern einen „Diktator“.

St. Louis/Köln - Die Welt des Garri Kasparow ist schwarz und weiß. Immer noch. Das russische Schach-Genie jagt allerdings schon seit dem 11. März 2005 keine Könige mehr, nein, längst quält er als Oppositioneller mit schärfster Zunge einen anderen Herrscher, der politische Rochaden perfekt spielt: Wladimir Putin.

 

4539 Tage nach seinem Rücktritt hat Garri Kasparow, diese lebende Legende, erstmals wieder im Wettkampf eine Partie eröffnet. Der 54-Jährige tritt in diesen Tagen beim St. Louis Rapid and Blitz an, einem Blitz- und Schnellschachturnier. Beim Auftakt am Montag rang Kasparow dem letztjährigen WM-Finalisten Sergej Karjakin aus Russland immerhin ein Remis ab. „Sieht aus, als würde ich den Altersschnitt heben, jedoch den Elo-Durchschnitt senken“, schrieb der langjährige Weltmeister bei Twitter ironisch: „Ich bin bereit herauszufinden, ob ich die Figuren noch bewegen kann.“

Er wird sich wohl daran erinnern, dass er das Pferd zwei Felder vorwärts und ein Feld zur Seite ziehen darf. Oder eben umgekehrt. Im „Chess Club and Scholastic Center“ kennt sich Garri Kasparow jedenfalls bestens aus. Im Westend von St. Louis sitzt gleich gegenüber auf der Maryland Avenue in einem dunkelroten Backsteinbau die Hall of Fame des Schach, der er seit 2005 wie selbstverständlich angehört. Die Szene ist in Aufruhr: Es ist in etwa, als würde Lothar Matthäus in die Bundesliga zurückkehren.

Dass gerade Kasparows Buch „Deep Thinking“ über sein legendäres zweites Duell mit dem IBM-Computer Deep Blue 1997 erschienen ist - sicher kein Zufall, eher ein kluger Marketing-Schachzug. Es war das erste Mal, dass eine Maschine einen Weltmeister unter Turnierbedingungen besiegte.

Das Spiel seines zweiten Lebens abseits des Bretts ist ein politisches. Kasparow, eigentlich Garik Weinstein, geboren 1963 in Baku/Aserbaidschan, ergraut und stets im Anzug, ist dort ebenso verbissen und angriffshungrig, wie er einst seinen größten Widersacher Anatoli Karpow im denkwürdigen Schach-Klassenkampf zermürbte.

Putin als Krebsgeschwür beschimpft

Doch sein Gegner ist diesmal kaum mit einer List zu bezwingen. Kasparow hat Putin ein Krebsgeschwür geschimpft, ihn mit dem frühen Hitler verglichen, er hat ihn als Paten eines „diktatorisch“ gelenkten, mafiös völlig zerfressenen Russland beschrieben, das sein Volk im Zombie-Zustand halte. 2007 saß er für ein paar Tage im Gefängnis, nachdem er eine Anti-Putin-Demonstration in Moskau angeführt hatte.

Inzwischen lebt er im New Yorker Exil, weil er „von dort mehr Schaden anrichten kann“. Nun folgt für ein Turnier die Rückkehr ans Schachbrett, vor dem Kasparow immer grübelnd saß, die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn in einer Hand versenkt. Er wird sich dank einer Wildcard bis Freitag mit einem Feld von neun Topspielern messen, darunter Indiens Ex-Weltmeister Viswanathan Anand.

Leider kommt es nicht zum Wettkampf mit Norwegens Wunderkind Magnus Carlsen, das heute die Szene beherrscht, wie es einst Kasparow tat. Carlsen, 26, vom russischen Idol höchstselbst gefördert, steht in der Liste der Spieler mit der höchsten Elo-Zahl der Geschichte auf dem ersten Platz (2882), Kasparow (2851) ist die Nummer zwei. Mit der Elo-Zahl wird die Spielstärke erfasst. „Schach ist geistige Folter“, hat Kasparow gerne gesagt. Seine Gegner werden es wohl spüren.