Vor gut einem Jahr ist es in Ulm zu einer Legionellenepidemie gekommen. Fünf Menschen starben. Die Aufklärungsarbeit stockt aber.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)
Ulm - Gegen Mittag sagte die Sekretärin von Johannes Defort ihrem Chef endlich ins Gesicht, er sehe erbarmungswürdig aus. Schon den ganzen Vormittag hatte der Standortleiter der DB Netz AG in seinem Büro in der Ulmer Innenstadt "totales Unwohlsein" gespürt. Bleich zwang er sich dann, nach Hause zu fahren. Abends, da war sein Zustand "schnell schlechter" geworden, konsultierte er den Hausarzt. Der Mediziner nahm Fingerblut, sprach von einem Infekt und drückte dem Bahnangestellten homöopathische Tropfen in die Hand. Was dann kam, vergisst Johannes Defort nicht mehr.

"Die Nacht war eine Katastrophe." Er hatte starke Schmerzen, Schüttelfrost, das Fieber stieg auf über 40 Grad. Einen weiteren Tag später lag der 46-Jährige in einem Intensivbett der Universitätsklinik Ulm, benebelt von starken Medikamenten. Sein Immunsystem kämpfte mit einer schweren Lungenentzündung. Es war der 30. Dezember 2009.

Defort ist einer von 64 Infizierten, die den größten Legionellenausbruch der Bundesrepublik überlebt haben. Fünf Patienten wurden durch die Erreger im Zeitraum vom 6.bis 13. Januar 2010 getötet: ein Mann, 46, sowie drei Frauen und ein weiterer Mann im Alter zwischen 74 und 95 Jahren. Die Opfer hatten nichts getan, als im falschen Moment die Luft in der Ulmer Innenstadt einzuatmen. Das muss, bei Berücksichtigung einer Inkubationszeit von drei bis zehn Tagen, zwischen dem 18. und 24. Dezember 2009 geschehen sein.

Stündlich wurden es mehr Patienten


Im dämmrigen Licht ihres Büros im Sousparterre der Ulmer Chirurgischen Klinik erinnert sich die Mikrobiologin Heike von Baum an Tage, in denen sie zur rastlosen Krisenmanagerin wurde. "Am 5. Januar morgens ging es los." Ein Kollege warnte die Professorin, er habe drei Patienten mit positivem Legionellen-Urintest auf der Station liegen. Bis zum Nachmittag zählte die Uniklinik sieben Patienten mit einer Legionellose. Von hundert Erkrankten sterben erfahrungsgemäß sieben bis zehn. Heike von Baum rief beim Gesundheitsamt an und sagte: "Wir haben ein Problem."

Dann informierte sie das Robert-Koch-Institut und berief eine Task-Force, in die auch Vertreter des städtischen Wasserversorgers geholt wurden. Alle Patienten mit annähernd verdächtigem Krankheitsbild innerhalb der Klinik wurden auf Legionellen getestet. "Im Labor, die schwammen im Urin", erinnert sich die Mikrobiologin. An niedergelassene Ärzte aus der Region und benachbarte Kliniken wurden warnende Faxschreiben versandt.

Da war nichts, was die stündlich zahlreicher werdenden Patienten gemeinsam hatten, keinen Schwimmbad- oder Messebesuch, keinen Kaufhausbummel oder Klinikaufenthalt, keine Autoreinigung in einer Waschanlage. Am 6. Januar sprach Heike von Baum mit einer erkrankten alten Dame, die versicherte, sie habe ihre Innenstadtwohnung wegen einer Beinverletzung seit vier Wochen nicht verlassen können. Das Luftschnappen auf dem Balkon war die einzige Abwechslung bewegungsloser Tage gewesen.

Milde Temperaturen optimal für Legionellen


Da wusste Heike von Baum: "Verdammt, es ist ein Rückkühlwerk." Rückkühlwerke oder Verdunstungskühlanlagen dienen der Klimatisierung großer Industrie-, Dienstleistungs- oder Gewerbegebäude. Die Anlagen entziehen Kühlwasser Wärme durch Verdunstung, der entstehende Wasserdampf entweicht in die Umwelt. Die austretenden Wassertröpfchen können Mikroorganismen – etwa Legionellenbakterien – mit sich in die Höhe tragen.

In spanischen Murcia starben im Jahr 2001 durch das Einatmen von mit Legionellen verseuchter Aerosole sechs Menschen. Im französischen Département Pas-de-Calais waren es zum Jahreswechsel 2003/2004 sogar 18 Patienten. 2005 gab es in Sarpsborg (Norwegen) zehn Legionellentote.

Die stäbchenförmigen Bakterien sind höchst anpassungsfähige Geschöpfe der Zivilisation, sie lieben milde Temperaturen. Alles ergab nun einen schrecklichen Sinn. Neblig und schneelos, bei Temperaturen um sieben Grad Celsius, hatte sich das Jahr 2009 von den Ulmern verabschiedet. Der Rauch aus den Schornsteinen stieg nicht auf, sondern zog langsam seitwärts. Für Wetterkundige ein sicheres Zeichen für eine Inversionswetterlage. Städte sind dann undurchlässige Kessel für Abgase.

Ulmer Bevölkerung atmete nach einem Monat auf


Im sogenannten Telekom-Gebäude, unweit des Ulmer Theaters, gingen die Beschäftigten verschiedener IT-Abteilungen, des technischen Service, des Kundenservice und der Netzproduktion ahnungslos ihrer Arbeit nach. Sie hatten 2009 viel Baulärm ertragen müssen, denn der Gebäudebetreiber hatte zwei neue Blockheizkraftwerke mit Absorptionskälteanlagen einbauen lassen. Im Dezember befand sich die brandneue Technik noch im Testbetrieb.