Nadine Hildebrand ist eine der schnellsten Hürdensprinterinnen in Europa. Selbstverständlich ist das nicht: Die Athletin vom VfL Sindelfingen musste in ihrer Laufbahn schon etliche Hindernisse überwinden.

Amsterdam - Es gibt ein olympisches Erlebnis, das Nadine Hildebrand nie vergessen wird. Sie war 16 Jahre alt, mit ihrem Latein- und Altgriechisch-Kurs auf Klassenfahrt in Griechenland. Beim Besuch der antiken Sportstätten in Olympia konnte sie nicht anders, als loszurennen. In Sandalen und Freizeitklamotten. Jetzt, zwölf Jahre später, wird sie endlich ankommen. In Rio de Janeiro. „Olympische Spiele“, sagt sie, „haben auf mich eine fast schon mystische Anziehungskraft.“

 

Nadine Hildebrand, 28, ist zwar Hürdensprinterin, doch sie neigt nicht zu Übersprunghandlungen. Der bedeutungsschwere Satz ist wohlüberlegt. Und er hat eine Geschichte, die zwar mit der Klassenfahrt beginnt, in der aber auch weniger schöne Kapitel stehen. 2012 zum Beispiel erfüllte die Feuerbacherin mit einer Zeit von 12,94 Sekunden die internationale Olympia-Norm für London (12,96), der deutsche Verband aber forderte 12,92 Sekunden – und ließ Hildebrand zu Hause, während andere Härtefälle mitgenommen wurden. Damals fiel sie in ein Loch, der Frust war groß. Das wird ihr nun, einen olympischen Vier-Jahres-Zyklus später, nicht noch einmal passieren.

Hildebrand lief Ende Mai in Weinheim 12,79 Sekunden, packte damit die Norm. Und trotzdem sagt die aktuell schnellste Deutsche: „Ich habe zwar alle Voraussetzungen erfüllt, glaube aber erst, dass ich in Rio dabei bin, wenn ich auf der Liste stehe und die Team-Klamotten daheim habe.“

Das Finale bei der Europameisterschaft ist Pflicht

Die dritte und letzte Nominierungsrunde des Deutschen Olympischen Sportbundes ist am nächsten Dienstag. Nach dem zweiten Saisonhöhepunkt. An diesem Donnerstag startet Hildebrand bei der EM in Amsterdam. Um 17.10 Uhr ist das Halbfinale, um 19.40 Uhr der Endlauf. Mit der Athletin vom VfL Sindelfingen? Sie selbst geht fest davon aus, alles andere wäre eine große Enttäuschung. „Das Finale ist Pflicht“, sagt Hildebrand, die auch bei der EM 2010 in Barcelona und der EM 2014 in Zürich im Endlauf stand, „dafür muss ich eine Zeit um die 12,90 Sekunden schaffen. Die habe ich auf jeden Fall drauf.“ Und das ist durchaus bemerkenswert, denn der Karriereweg der Hürdensprinterin verlief alles andere als barrierefrei.

Die größte Blockade tat sich im Herbst 2014 auf. Hildebrand hatte ihr bisher bestes Jahr hinter sich, mit DM-Titeln in der Halle (60 Meter) und im Freien (100 Meter) sowie Platz sechs bei der EM. Doch plötzlich tat ihr das Knie weh. Knorpelschaden! Was folgte, war der Horror eines jeden Leistungssportlers. Bei einer Operation im Januar 2015 in Rottenburg wurde eine Knochen-Knorpel-Transplantation vorgenommen, die gesamte Saison war kaputt. Hildebrand dachte immer positiv, sie zweifelte nie daran, auf die Bahn zurückzukehren. Doch sie hatte acht Zentimeter Oberschenkelumfang verloren. Erst ein Jahr später, im Januar 2016, machte sie wieder einen Wettkampf. Problemlos zu joggen, klappt immer noch nicht, doch das ist nicht wichtig: „Hauptsache, ich kann schnell über Hürden laufen.“ Und das geht. Andere Folgen der Verletzung spürt sie noch immer.

„Ich brauche einen Job, um finanziell über die Runden zu kommen“

Wer in der Leichtathletik nicht erfolgreich ist, verdient auch nichts. Dazu verlor Hildebrand, die 2013 ihr Jura-Studium abgeschlossen hat, noch ihren Job in einer Stuttgarter Kanzlei. Ihre Chefs freuten sich, eine Spitzensportlerin zu beschäftigen, doch als diese öfter bei der Physiotherapie war als an ihrem Schreibtisch, gab es die Kündigung. Die Ersparnisse der Anwältin gingen drauf, sie musste lange suchen, um in Zuffenhausen einen neuen Halbtages-Job zu bekommen. „Der Sport fordert meinen Körper voll, doch ich brauche einen Ausgleich für den Kopf“, sagt sie, „und ich brauche einen Job, um finanziell über die Runden zu kommen.“

Hildebrand überwindet in jedem Rennen zehn 84 Zentimeter hohe Hürden, doch gleichzeitig steht sie mit beiden Beinen fest im Leben. Und spricht als Anwältin in eigener Sache. Dann klagt sie Sandro Wagner an, der meint, Fußballprofis würden zu wenig verdienen: „Wahnsinn! Es gibt so viele Sportler, die schon über einen Bruchteil dessen glücklich wären.“ Dann hält sie ein Plädoyer für die Leichtathletik: „Nach Fußball kommt Fußball und danach Fußball. Wir bekommen von den Medien keine Aufmerksamkeit, deshalb keine Sponsoren, deshalb kaum Geld.“ Und dann stellt sie Betrüger an den Pranger: „Die Doper tanzen uns auf der Nase herum. Wir brauchen endlich auf der ganzen Welt ein so striktes Kontrollsystem wie in Deutschland.“

Hört sich nach Frust an? Nein, da ist nur eine Leistungssportlerin, die sagt, was sie bewegt. Und trotzdem Leichtathletin aus Leidenschaft ist. Deshalb wird sie weitermachen, selbst wenn sich ihr olympischer Traum in Rio erfüllt hat. Weil sie trotzdem das Gefühl haben wird, nicht fertig zu sein. Der Lauf des Lebens ist noch nicht im Ziel. „Auch 100 Meter können weit sein“, sagt Nadine Hildebrand, „ich weiß, dass ich mein bestes Rennen noch in mir habe.“ Das reicht als Antrieb für eine Karriere, die vor zwölf Jahren begann. In Sandalen und Freizeitklamotten im antiken Olympia.