Die tiefgläubige Allyson Felix ist die erfolgreichste Leichtathletin aller Zeiten, aber Usain Bolt überstrahlt auch sie.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Peking - Es ist nicht einfach, im Zeitalter des Usain Bolt zu leben, zumindest für all jene, die nicht Usain Bolt heißen. Das trifft auf die überwältigende Mehrzahl der circa 3000 Athleten bei dieser WM in Peking zu, und natürlich auch auf Allyson Felix. Die heißt nämlich: eben, Allyson Felix, und sie hat am Donnerstagabend Ortszeit ihren neunten WM-Titel gewonnen.

 

Die US-Amerikanerin ist die erfolgreichste Leichtathletin aller Zeiten, es ist eine außergewöhnliche Geschichte, aber dann kam da wenige Minuten später dieser Jamaikaner hinterher. Der 29-Jährige gewann über die 200 Meter seinen zehnten WM-Titel und wurde danach auch noch von einem Kameramann auf einem Segway umgegrätscht. Als wäre nicht schon der Sieg allein genug gewesen, so sorgte dieses Kuriosum dafür, dass praktisch alles, was an diesem spektakulären Abend in Peking geschehen war, ging in einer Melange aus Usain Bolt, Kameramann und Segway (streng genommen sogar Bolts Sieg) unter.

Allyson Felix wurde von niemandem umgefahren, sie hatte einfach nach einer starken Vorstellung gewonnen und Sportgeschichte geschrieben, und sie spuckte auch keine großen Töne nach ihrem ersten WM-Titel über 400 Meter. Stattdessen saß die elegante US-Amerikanerin spät am Abend vor der Weltpresse, sie dankte dem lieben Gott für alles und sagte mehrfach einfach nur: „Ich bin gesegnet.“ Usain Bolt hat ein anderes Sendungsbewusstsein. Der Jamaikaner ist der Showmann der Leichtathletik. Er vergisst zwar auch selten, dem „Lord“ zu danken, wobei Demut nicht unbedingt seine Stärke ist und man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass er sich zumindest für den Abgesandten auf Erden hält, wenn er davon anfängt zu erzählen, dass er der größte Athlet aller Zeiten sein will, wahlweise es auch schon ist.

Das Talent ist ein Geschenk Gottes

Allyson Felix würde das nie sagen. Nicht mal denken. Sie ging als Tochter eines Geistlichen auf eine Baptistenschule, bis heute ist sie tiefgläubig. „Mein Talent ist ein Geschenk Gottes“, sagt sie. Mit 18 Jahren bekam sie ihren ersten Ausrüstervertrag, 2004 holte sie mit Silber über 200 Meter in Athen ihre erste olympische Medaille, 2005 wurde sie in Helsinki erstmals Weltmeisterin (200 Meter). Bis heute hat sie neun Titel gesammelt (200 Meter, 400 Meter, Sprintstaffel, 400-Meter-Staffel), dazu vier Olympiasiege. Der eilige Geist.

Es ist eine Offenbarung, Allyson Felix bei ihrer Arbeit zuzusehen. Es sieht nicht aus wie harte Arbeit, sie kämpft sich nicht über die Bahn. Sie schwebt voller Eleganz und Anmut wie eine Ballerina über den Tartan. Sie läuft mit einer Leichtigkeit und Grazie, wie sie die Leichtathletik selten gesehen hat. Felix, auch über 100 Meter stark , wird deshalb oft mit der legendären Sprinterin Wilma Rudolph verglichen, die wegen ihrer Eleganz „schwarze Gazelle“ genannt wurde. Felix ist die „goldene Gazelle“.

Ihr Vorbild, sagt Allyson Felix, sei die Französen Marie-Jose Perec mit ihren raumgreifenden Schritten und der Grandezza auf der Bahn. Felix’ durchschnittliche Schrittlänge ist 20 Zentimeter größer als bei ihren Konkurrentinnen, obwohl sie mit 1,68 Meter nicht ungewöhnlich groß ist. Bei Olympia 2012 wurden 2,38 Meter gemessen, das entspricht etwa der Schrittlänge der männlichen Sprinter. Ihre Frequenz ist entsprechend niedriger, was dazu führe, „dass die Leute denken, ich schwebe, und ich bin langsam“. Als Kind wurde sie wegen der dünnen Beine noch als „chicken leg“ verspottet. „Ich habe eben nicht die typische Sprinterfigur.“

Bei allen Skandalen immer außen vor

Im dopingverseuchten US-Sprint ist sie überhaupt eine Ausnahme. Bei allen Skandalen war sie immer außen vor, auch wenn man für niemanden in der Hochgeschwindigkeitsbranche die Hand ins Feuer legen will. Die gedopte Marion Jones war einst ihr Idol: „Ich habe sie bewundert und ihr geglaubt. Das hat mir die Augen für die Realität geöffnet. Heute trage ich Verantwortung für junge Sportler, die zu mir aufschauen“, sagt Felix, die mit ihrem geliebten Yorkshire Terrier Chloe übrigens per Skype Kontakt hält. Felix unterzieht sich im Rahmen des „Projects Believe“ der Nationalen Antidopingagentur der USA jede Woche freiwillig zusätzlichen Tests.

Ihr Betreuer weckt allerdings großes Misstrauen. Er heißt Bob Kersee und war auch Trainer und Ehemann von Jackie Joyner-Kersee und Coach der mit 39 Jahren verstorbene Florence Griffith-Joyner, die sich massiven Dopingverdächtigungen ausgesetzt sahen. Ihr Vater gab Allyson Felix jedenfalls mit auf den Weg: „Wenn du nicht den Pfad der Wahrhaftigkeit gehst, haben deine Medaillen keinen Wert.“

Usain Bolts letzter Auftritt wird die Sprintstaffel am Samstag sein. Allyson Felix wird also bei der WM das letzte Wort haben, am Sonntag in der 400-Meter-Staffel.

Wobei: irgendwas ist ja immer mit Bolt.