Der Hochleistungssport predigt die reine Lehre und verbietet das Doping. Doch auch dort werden die natürlichen Grenzen nicht respektiert.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Als die Techniker Krankenkasse 2008 einen Bericht zum Missbrauch des Aufputschmittels Ritalin unter Studenten veröffentlichte, gab es Experten, die davon sprachen, dass man irgendwann Dopingkontrollen vor den Hörsälen vornehmen müsse. Laut einer Umfrage des Wissenschaftsmagazins „Nature“ werden von jedem fünften Forscher verschreibungspflichtige Mittel zweckentfremdet. Würden Regeln des Sports übertragen, stünde auch manche Oper auf der Kippe. Bei Kontrollen würde ein Drittel der Orchestermusiker positiv getestet. Eine Befragung von 2000 Mitgliedern großer Orchester in den USA ergab, dass rund 27 Prozent der Musiker Betablocker einnehmen, 19 Prozent sogar täglich. Im Sport folgt auf dieses Vergehen ein zweijähriges Berufsverbot.

 

Das mit den neuen Dopingkontrollen ist natürlich ein Witz. Niemand nimmt den Vorschlag ernst, Studenten auf Aufputschmittel zu testen oder einen Musiker 24 Monate von Auftritten auszuschließen, weil er seine Leistung mit Hilfe entsprechender Medikamente erbringt. Aber es stimmt eben auch: die Musik hat ein Dopingproblem. Und das ist alles andere als lustig.

Der Mensch ist ein einziger Mangel, körperlich eingeschränkt und mit Verfallsdatum versehen. So klug, stark und schnell man auch sein mag, jeder hat sein persönliches Limit. Früher oder später lernt man es kennen. Doch der Mensch ist beseelt vom Streben nach einem perfekten Körper, nach einem Mehr an Fähigkeiten, einem Weniger an Schwächen. Die Folge ist eine Materialschlacht gegen die Natur, ein gesellschaftlich entfesseltes Doping, eine individuelle Exzellenzinitiative. Gefärbte Haare, falsche Wimpern, neue Brüste, gelaserte Augen, ein aufgewecktes Gehirn - ist diese Entwicklung nicht konsequent?

Das Streben nach Perfektion

Leistungsdruck mag eine Ursache sein, das medial beeinflusste Schönheitsideal eine andere, aber auch das eigene Streben nach Perfektion spielt eine Rolle. Es ist nicht allein der Wettbewerb mit anderen, sondern auch der mit sich selbst. Ein ganzer Industriezweig beschäftigt sich damit, die Natur zu betrügen. Milliarden werden umgesetzt, um einen unaufhaltsamen Prozess zu verzögern. Mittel gegen Falten, gegen Muskelerschlaffung, kurz: gegen den natürlichen Lauf der Dinge. Seien es Präparate zum Gehirndoping oder Kosmetika.

Es geht dabei auch um ethische und moralische Fragen. Wo ist die Grenze? Sind Mittel gegen Falten erlaubt, psychoaktive Substanzen aber nicht? Schönheitsoperationen ja, Stammzellkuren nein? Wo enden persönliche Eitelkeit und medizinische Notwendigkeit, wo beginnt ein verantwortungsloser Eingriff in die Natur?

Eine radikale Antwort liefert der Transhumanismus. Anhänger dieser angelsächsischen Denkschule propagieren eine Abkehr von der natürlichen Weiterentwicklung des Humanoiden und streben eine Überführung des Menschen in das nächste Zeitalter an. Sie fordern, dass der Mensch sein Schicksal unter Zuhilfenahme aller wissenschaftlichen Optionen selbst in die Hand nehme. Es ist eine Neuschöpfung des Menschen, der Homo sapiens 2.0. Anhänger dieser Philosophie halten es binnen der kommenden 50 Jahre technisch für möglich, in die evolutionäre Entwicklung des Menschen einzugreifen. Das klingt nach Science-Fiction und Cyborgs, auch nach gefährlicher Rassenlehre und Züchtung.

Der Philosoph Michael Sandel von der Harvard-Universität warnt davor, dass wir im Begriff seien, die Demut vor unserem Limit zu verlieren. Andere erinnern hingegen daran, dass das Bemühen, sich zu verbessern, zutiefst menschlich sei.

Im Ozean der Körpermanipulation

Es gibt einen Bereich der Gesellschaft, der ganz darauf ausgerichtet ist, Barrieren einzureißen. Citius, altius, fortius (schneller, höher, stärker) ist sein Evangelium: der Hochleistungssport. Es ist die geradezu absurde Situation entstanden, dass jener Bereich, der wie kein anderer auf körperliche Leistungsfähigkeit setzt, sich abkoppelt von der Welt, die ihn umgibt. Der Sport ist - in der Theorie - eine Insel der Seligen inmitten eines Ozeans der Körpermanipulation. Der Sport predigt die reine Lehre. Alles Leistungssteigernde ist verboten, um einen fairen Wettstreit zu garantieren.

Der Tübinger Soziologe Helmut Digel sagt zu der Schizophrenie: „Außerhalb des Sports wird überall danach geforscht, wie man den menschlichen Körper optimieren kann: das Aussehen, die Intelligenz, sogar die Gene und Organe. Bei dieser Entwicklung darf man sich nicht wundern, dass die Naturwissenschaft den Sport als optimales Laborfeld für sich entdeckt hat. Die Interessen sind in hohem Maße deckungsgleich.“

Es gibt kaum ein selektiveres System als den Hochleistungssport. Die Überschreitung von Grenzen ist das Prinzip, das dazu beiträgt, dass dieses System - und damit das Doping - außer Kontrolle gerät. Es ist seine Hybris, an der er unterzugehen droht, weil er nicht weiß, was aus ihm werden soll, wenn der Steigerungsimperativ nicht mehr erfüllt werden kann. Sport ist gnadenlos, er sortiert brutal aus. Kaum ein inhumaneres System ist denkbar als dieses, das den Wert eines Menschen, eines Athleten, allein über dessen Leistungsfähigkeit definiert. Wer nicht mithalten kann, für den gibt es keine Verwendung.

Sport erduldet keinen Stillstand

Der Sport kann nicht innehalten, er duldet keinen Stillstand. Die Zeiten müssen verbessert, die Weiten gesteigert werden. Es darf kein Limit geben. Training und Material helfen dabei, die körpereigenen Ressourcen besser auszuschöpfen. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weiter geht. Der Sport droht in vielen Bereichen ans Limit zu gelangen. Allen voran in der klassischsten aller Disziplinen, der Leichtathletik. Leistung ist dort - anders als etwa in Spielsportarten - messbar, und damit leicht vergleichbar. Wissenschaftler glauben, dass das Ende der Fahnenstange bald erreicht sein dürfte.

Und dann? Was folgt, wenn der Imperativ der Steigerung nicht mehr erfüllbar ist? Eine Rückbesinnung auf den Wettstreit kommt wohl kaum infrage. Rekorde werden in Stein gemeißelt und sind für jedermann sichtbar. Niemand hat ein Interesse daran, sie einzustellen. Rekorde sind dafür da, gebrochen zu werden.

An der Grenze des physiologisch Möglichen lauert der Betrug. Der Dopingexperte Perikles Simon von der Universität Mainz schätzt, dass zwischen 30 und 40 Prozent der Athleten dopen. Ehrgeiz, harte Selektion, öffentlicher Druck - obwohl es im Sport klare Verbote gibt, wirken die Motive so stark wie im Alltag. Doping ist hier wie dort auch eine Frage der Mentalität.

Ist der Konflikt überhaupt lösbar? Man könnte den menschlichen Makel nicht als Schwäche auslegen, sondern einfach als menschlich. Ein frommer Wunsch.