Im Olympiastützpunkt Stuttgart trainieren die Superathleten von morgen. Doch für den Erfolg müssen sie viel aufgeben – so wie der Wasserballer Marco Watzlawik.

Stuttgart - Marco möchte eines Tages bei den Olympischen Spielen gewinnen, deshalb trägt er Gedichte vor. „Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!“, rezitiert er laut und leicht stockend in den Klassenraum hinein, dann hält er inne. Verstanden hat er nicht so richtig, was er da sagt, und das ärgert ihn. „Kapier ich nicht“, sagt er und verzieht das Gesicht. Seine Mitschüler kichern verhalten. Aber Marco akzeptiert keine Hindernisse, schon gar nicht in Barockgedichten. „Bestimmt etwas mit Soldaten“, sagt er mehr zu sich selbst und wendet sich der nächsten Zeile zu. So leicht gibt er sich nicht geschlagen, weder schwer verständlichen Versen noch den lachenden Mitschülern oder seiner eigenen Abneigung gegen Poesie.

 

Denn Marco Watzlawik ist nicht nur: 19 Jahre alt, Oberstufenschüler und eher mies im Deutschunterricht. Marco Watzlawik ist vor allem: ein hochbegabter Wasserballer, die deutsche Olympiahoffnung für 2016 und Torwart der Juniorennationalmannschaft. „Ich habe durch den Sport sehr früh gelernt, dass ich hart arbeiten muss, wenn ich im Leben weiterkommen will“, sagt Marco und zuckt mit den Schultern. Es ist eine abgeklärte, beinahe ein wenig resignierende Geste.

Wasserball – eine Mädchensache?

Er sieht erwachsen aus für sein Alter mit dunklen, kurz geschnitten Haaren und einem schmalen, hageren Gesicht. Er redet mit fester Stimme, ohne zu blinzeln, die Hände vor dem Körper verschränkt. Und wenn er seine eigene Geschichte erzählt, klingt das manchmal, als rede er von einem guten Bekannten.

Für Schulpflichtige gibt es das Internat

Seit sieben Jahren spielt Marco jetzt schon Wasserball. „Ein Kumpel hat mich da mit hingenommen, ich selber dachte eigentlich, das ist eher so eine Mädchensache.“ Aber nach dem ersten Training merkt er: der Sport liegt ihm. Sehr sogar. Jeden Nachmittag verbringt er im Schwimmbecken, die Wochenenden gehen für Turniere drauf. „Mir hat das nichts ausgemacht, ich hatte viel Spaß.“

Bald ist er so gut, dass er dem Jugendnationaltrainer auffällt. Dieser empfiehlt ihm: wenn du weiterkommen willst, musst du trainieren, härter und öfter als bisher, mit professioneller Förderung und bester Betreuung. Marco zieht von einem Dorf bei Würzburg in die Großstadt, von seinem Elternhaus ins Sportinternat nach Untertürkheim. Die Einrichtung gehört zum Stuttgarter Olympiastützpunkt, hier trainieren Welt- und Europameister sowie alle Athleten, die ernsthafte Chancen auf höchste Titel haben.

Leben im Internat

Wer noch schulpflichtig ist, kann ins Internat. Es bietet Platz für 20 jugendliche Großtalente, die dort für etwa 240 Euro im Monat gehegt und gepflegt werden. Physiotherapeuten, Ernährungsberater, Ärzte stehen bereit, um die Talente zu betreuen. Kraftraum und Trainingsplätze liegen in direkter Umgebung, Frühstück und Abendessen gibt es pünktlich und proteinreich, und dazu zwei Betreuer, die sich um alle persönlichen Probleme kümmern. Im Gegenzug für all diese Annehmlichkeiten werden von den jungen Bewohnern Disziplin und Bestleistungen erwartet – im Sport und in der Schule. Sie haben kaum Privatsphäre. Sie verzichten auf die eigene Jugend.

Um 22.30 Uhr muss Marco im Bett liegen, Besuch von Frauen ist nicht erlaubt, Sex im Internatsbett sowieso nicht. „Ich hatte schon mal eine Freundin, für ein Jahr, daheim in Würzburg“, sagt Marco und dass es kaputtging, als er nach Stuttgart gekommen sei. Er nimmt die Hände auseinander, fährt sich über das Gesicht, er will eigentlich nicht darüber reden. Ab und zu reist er noch in die Heimat, die Eltern besuchen. So alle sechs Monate, öfter geht es nicht. Sie verstehen das, der Sport ist wichtig, seine Zeit völlig ausgefüllt.

Konzentration aufs Wesentliche

Um wirklich erfolgreich zu sein, um sich ernsthafte Hoffnungen auf Olympia machen zu können, um seinen großen Traum zu erreichen, trainiert Marco jeden Tag in der Woche, manchmal sogar zweimal – frühmorgens vor der Schule und noch einmal am Abend. Er stemmt Gewichte, übt Würfe, trainiert seine Reflexe. Sobald er aus dem Schwimmbad oder der Halle kommt, arbeitet er für die Schule. Wenn die Noten zu oft nicht stimmen, verliert er seinen Platz im Internat und damit auch die Chance auf eine Medaille.

Am Anfang des Schuljahres hat Marco einen Zettel bekommen, darauf stehen sein Stundenplan, seine Trainingszeiten, seine Krafteinheiten. Er hat ihn aufgehängt über seinem Bett an der sonst völlig kahlen Zimmerwand. Der junge Mann konzentriert sich auf das Wesentliche: Schreibtisch, Kleiderschrank, Bett, das reicht zum Leben, mehr braucht er nicht.

Auf dem Teppich stapeln sich Schulmappen und alte „Men’s Health“-Magazine, ordentlich in Haufen sortiert, daneben liegt eine Reclam-Ausgabe von „Dantons Tod“. Die musste Marco für die Schule lesen, privat hätte er es nicht gemacht. Er mag Danton nicht, diesen Lebemann in Paris, der seine Tage nur mit Huren und Wein verbringt und darüber das höhere Ziel der Revolution vergisst. Marco würde sein Ziel nie vergessen.

Heiligenbild auf dem Nachttisch

Er zeigt stolz ein Heiligenbildchen, das auf seinem Nachttisch steht, darauf die Jungfrau Maria. Direkt daneben liegt ein Rosenkranz. Beide Dinge hat Marco von zu Hause mitgebracht, sie sind die einzigen privaten Sachen, die er sich im Internat erlaubt. Marcos Eltern kommen aus Tschechien, sie haben ihn katholisch erzogen. Er ist gläubig, so oft er zwischen Sport und Schule Zeit hat, geht er in die Kirche. „Wenn ich bete, wünsche ich mir einen Sieg für unsere Mannschaft im nächsten Spiel oder dass ich mir keinen Muskelriss oder so etwas in der Art zuziehe“, sagt Marco.

Der Allmächtige erhört seine Bitten: Vor einigen Wochen hatte Marco eine Verletzung am Ohr, ein Knötchen, nicht wirklich schlimm, aber doch so stark störend, dass es entfernt werden musste. Zum Glück war gerade Weihnachten, er konnte es über die Feiertage operieren lassen, verpasste dadurch keine einzige Trainingseinheit, was ihn heute immer noch freut: „Das hätte mich stark zurückgeworfen, deshalb bin ich glücklich, dass es so glimpflich abgelaufen ist.“

Erschreckend vernünftig

Marco Watzlawik formuliert viele solcher Sätze. Sätze, die beeindruckend und erschreckend vernünftig klingen für jemanden, der gerade mal volljährig ist, seit Kurzem wählen gehen und den Führerschein machen darf: „Es ist anstrengend, aber ich weiß, dass das hier meine große Chance ist“ – „Spicken finde ich nicht gut, ich will nicht nur abschreiben, sondern die gelernten Sachen wirklich verstehen“ – „Später möchte ich professionell Sport machen und gleichzeitig in einem normalen Beruf arbeiten, beides zusammen bringt mir die richtige Balance.“

Marco lebt für die Herausforderung

Parallel zum Wasserball kann sich Marco für die Zukunft ein BWL-Studium vorstellen, vielleicht einen Managerposten danach, gern in Stuttgart und der Region, er mag die Stadt, er lebt gern hier. „Aber ich gehe auch nach Berlin oder Flensburg oder sonst wohin“, fügt er schnell hinzu. Egal, wo man Marco braucht, Marco wäre da. Er nimmt jede Herausforderung an ohne Rücksicht auf persönliche Wünsche und Vorlieben. Er hat gelernt, sich den Ansprüchen anzupassen. Denen der anderen. Seinen eigenen. Und denen, die in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu seinen eigenen geworden sind.

Deshalb hat er jetzt auch keine Zeit mehr, sein Tagesplan schreibt eine Wasserball-Trainingseinheit vor. Marco verabschiedet sich höflich, dann verschwindet er in der Umkleide. Als er wieder auftaucht, trägt er eine blaue Sportbadehose. Schnell begrüßt er die Teamkollegen, mit denen er jetzt trainieren wird, dann zieht er eine rote Badekappe mit Ohrenschutz über. Marco ist im Tor, er muss direkt in die mit 70 oder 80 Stundenkilometer herandonnernden Bälle hineinspringen, um Treffer des Gegners zu verhindern.

Kein Zeichen von Angst

Ein lauter Pfiff ertönt, das Spiel geht los. Mehrere Angreifer üben direkte Torwürfe, sie holen weit aus, dann schmettern sie die Bälle mit großer Wucht zwischen die Balken, wo Marco auf sie wartet. Marco reagiert, er schnellt hoch, nach links, nach rechts, nach vorn ins Wasser. Marco hält viele Bälle, fast alle. Er wirft sich hinein, ohne jedes Zeichen von Angst, als habe er nie etwas Schöneres getan, als sich von hart aufprallenden Bällen treffen zu lassen.

Schließlich trifft ihn ein Ball an der Schulter und trudelt dann ins Tor. Marcos Fehler. Der Ball war recht einfach zu halten, aber er hat die Flugroute falsch eingeschätzt, zu spät reagiert, ist seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden. Er schaut kurz ungläubig auf den Ball hinter sich, dann dreht er sich zum Angreifer, der das Tor gemacht hat. Die beiden klatschen sich ab. „Super Wurf!“, ruft Marco und lacht.