Das Europaviertel am Hauptbahnhof zeigt nicht den Geist Europas. Die wahren Europaviertel Stuttgarts sind woanders, dort, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenleben, meint Lokalchef Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Viel ist in diesen Tagen von Europa die Rede – auch in Stuttgart, wo Bürger Sonntag für Sonntag mit Sternenkranz-Fahnen auf die Straße gehen. Das ist ein gutes Zeichen, weil Europa lange negativ besetzt war. In den Köpfen hatte sich festgesetzt, dass in Brüssel nur Bürokraten und drittklassige Politiker am Werk sind – ohne dass man dieses Vorurteil je in Zweifel zog. Sinnbildlich dafür stand der abfällige Spruch: Hast Du einen Opa, dann schick ihn nach Europa! So trug die Öffentlichkeit selbst zu der Bürgerferne bei, die der EU regelmäßig unterstellt wurde.

 

Inzwischen, unter dem Eindruck des Brexit- und Trump-Schocks, stellen viele EU-Bürger fest, wie nahe ihnen die Europäische Union eigentlich ist – trotz ihrer Unzulänglichkeiten. Das zeigt sich auch in symbolischen Gesten, wie dem Entschluss der Stuttgarter Stadtverwaltung, das Glockenspiel im Rathausturm die Europhymne spielen zu lassen. Europa bekommt einen guten Klang. Wenn schon ein Spruch, dann müsste er lauten: Bist du jung, dann bring Europa in Schwung!

Architektur bestätigt abschreckendes Europa

Das bisherige negative Bild Europas als eines künstlichen, dem Menschen abgewandten Gebildes schien sich auch in der Architektur zu bestätigen. Das sogenannte Europaviertel an der Heilbronner Straße, entstanden auf dem ehemaligen Gelände des Güter- und Rangierbahnhofs, wirkt auf viele Betrachter abschreckend. Wenn das ein Abbild der europäischen Wertegemeinschaft ist, dann hat Europa viel mit Geld im Sinn und wenig mit Leben. Die Bahn hat eine andere Sicht darauf. Sie hält das Europaviertel für eine „der bedeutendsten Innenstadtentwicklungen Deutschlands“. Das hätte in der Tat der Fall sein können, wenn der Geist, verkörpert durch die Stadtbibliothek, nicht rund herum zugemauert würde.

Ein ähnliches Europa-Bild in Zürich: Dort wird zurzeit, ebenfalls in Nachbarschaft zum Hauptbahnhof, eine „Europaallee“ hochgezogen, 78 000 Quadratmeter groß. Angepriesen wird die „Europaallee“ mit dem Slogan „Ein Quartier voller Zürich“. Passender wäre: Ein Quartier voller Glas und Beton. Wer es unter dem Aspekt der Menschenfreundlichkeit betrachtet, kann kaum anders, als der Beobachtung des Architekten Christoph Mäcklers zuzustimmen, der den Stadtplanern in Zürich, Frankfurt und Stuttgart vorhält, sie versuchten mit dem Namen „Europa“ Urbanität und Zukunftsfähigkeit nachzuweisen. Tatsächlich jedoch fröstle es einen angesichts der „abstoßenden Kälte und Langeweile“. Das zeigt: Wo Europa draufsteht, ist noch lange nicht Europa drin, zumindest nicht das, wofür es im Kern steht: für Gemeinschaft in Vielfalt.

Europa liegt im Hallschlag

Die eigentlichen Europaviertel Stuttgarts liegen ohnehin ganz woanders – im Hallschlag oder im Zentrum von Cannstatt oder in Feuerbach. Treffender wäre dafür die Bezeichnung Eine-Welt-Viertel, denn dort leben Menschen aus Dutzenden Nationen überwiegend in guter Nachbarschaft zusammen. Das heißt nicht, dass alles zum Besten bestellt wäre. Bei weitem nicht. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt zum Beispiel ist ein noch größeres Problem als der Feinstaub. Nicht an teuren Immobilien fehlt es, sondern an bezahlbaren. Jede zusätzliche öffentlich geförderte Wohnung ist ein Gewinn.

Stuttgart braucht einen „Aufbruch“ für ein Kulturquartier. Ja. Aber ebenso einen Aufbruch fürs Wohnen. Im besten Fall führt man beides zusammen. Die Chance dafür bietet sich im künftigen Rosensteinviertel, das OB Kuhn einen „Gegenentwurf zum Europaviertel“ nennt. Jedenfalls darf es kein Luxus sein, in der Europastadt Stuttgart zu leben.

jan.sellner@stzn.de