Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat die Rechte des Parlaments gestärkt, meint Stefan Geiger im Leitartikel.

Stuttgart - Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts werden in den meisten Fällen einige Bundestagsabgeordnete mehr über die Verwendung der Gelder des Euro-Rettungsschirms entscheiden als ursprünglich geplant. Ändert sich dadurch etwas für den Rettungsschirm? Nein. Wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der Bundestag künftig anders entscheiden könnte? Nein. Ändert sich etwas an der deutschen Politik? Nein. Wächst die Legitimität der Entscheidungen? Allenfalls in einem kaum merklichen Umfang.

 

Das Verfassungsgericht hat wieder einmal an die existenziellen Grundlagen der Demokratie erinnert. Das tut es gebetsmühlenartig. Es hat erneut die Rechte und damit auch die Pflichten des Parlaments ein klein bisschen gestärkt, diesmal die Rechte der einzelnen Parlamentarier. Die Karlsruher gehen kleine Schritte. Aber es handelt sich um eine Kette gleichgerichteter Entscheidungen. Man darf diese Rechtsprechung nicht kleinreden. Die Richter bremsen so den schleichenden Prozess einer kontinuierlichen Entwertung des Parlaments, der sonst von der Macht des Faktischen immer stärker beschleunigt würde. Das ist immerhin etwas.

Es gibt inzwischen viele Entscheidungen zu Europa

Doch die inzwischen so zahlreichen Karlsruher Entscheidungen zu Europa im Allgemeinen und zu den diversen Rettungsschirmen im Besonderen dokumentieren zugleich die Ohnmacht des Gerichts. Entscheidend ist doch nicht, ob im Einzelfall neun oder aber 41 von 620 Abgeordneten die Hand heben dürfen. Wichtiger wäre da schon die Frage, ob ein Parlament noch seriös arbeiten kann, wenn es die 726 Seiten über ein milliardenschweres Rettungsschirm-Gesetz erst Stunden vor der Abstimmung von der Regierung zur Verfügung gestellt bekommt.

Die zentrale Frage aber ist, ob der Bundestag in der politischen Realität eines Europas, das nun einmal so ist, wie es geworden ist, überhaupt noch frei über immer neue Generationen von Rettungsschirmen abstimmen kann. Nur wenn man diese Frage mit Ja beantworten könnte, würden die elementaren Grundregeln der Demokratie noch eingehalten. Wie aber soll der Parlamentarismus noch funktionieren, wenn die einzige Alternative zu einem weiteren Milliardenpaket ein Desaster nicht nur wirtschaftlicher Art wäre? Das ist der Kern, über den Karlsruhe entscheiden müsste.

Die Risiken knebeln künftige Generationen

Wir haben uns daran gewöhnt, dass bei der Bekämpfung der Eurokrise demokratische Regeln gering geschätzt werden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass über Bürgschaften in unvorstellbarer Größenordnung, für die letztlich alle Steuerzahler haften, in geschlossenen und demokratisch nicht legitimierten Zirkeln verhandelt wird. Die damit verbundenen Risiken werden, wenn sie sich denn verwirklichen, die politische Gestaltungsfreiheit künftiger Generationen knebeln. Wir haben uns daran gewöhnt, dass darüber in einem unter Zeitdruck gesetzten Parlament nicht so ausdauernd und strittig diskutiert wird, wie es der Sache angemessen wäre.

Es ist an der Zeit, die Grundregeln der parlamentarischen Demokratie zu verteidigen. Das wird in den zentralen Fragen der europäischen Politik auf der Ebene des Nationalstaates allein nicht mehr möglich sein. Die Verflechtungen und die Abhängigkeiten sind längt viel zu komplex dafür. Die Behauptung, es sei noch möglich, nur einzelne Kompetenzen auf Europa zu übertragen und sie durch die Entscheidungen der nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren, ist längst zu einer Illusion geworden. Auch deshalb stößt das Bundesverfassungsgericht an seine Grenzen. Es wird kein Weg daran vorbeiführen, Europa selbst demokratischer zu gestalten und das europäische Parlament weiter zu stärken. Vielen erscheint das absurd. Es mangelt an dem politischen Willen dazu – vor allem in der Bevölkerung. Die Krise, die auch eine Demokratiekrise ist, könnte das ändern.