Ernsthafte Künstlerin oder Eintagsfliege? Die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2010, Lena Meyer-Landrut hat noch einiges vor.

Stuttgart - Um elf Minuten nach Mitternacht am Sonntag, dem 30. Mai 2010, war plötzlich nichts mehr wie zuvor. Im September 2009 war Lena Meyer-Landrut noch eine Abiturientin wie Zigtausende andere junge Frauen in ihrem Alter auch - und nun saß die 19-Jährige aus dem hannoverschen Stadtbezirk Misburg-Anderten in einer norwegischen Riesenhalle und hörte, von der Weltöffentlichkeit begleitet, wie ein paar armenische Fernsehzuschauer gerade einen neuen Abschnitt ihres Lebens einläuteten. "Twelve Points" hagelte es zum Finale des Eurovision Song Contests auch aus Eriwan, kurz darauf fehlten selbst der schlagfertigen Lena die Worte. "Es ist Wahnsinn, so unreal, Herrgott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, I am completely freaking out", stammelte sie in die Mikrofone.

"Wow, verdammte Axt! Ist das geil! Dankeschönst!" schrieb sie am Tag darauf in das Goldene Gästebuch ihrer Heimatstadt; längst wieder gefasst zwar, aber doch noch immer mit jener reizend-unverstellten Unbekümmertheit, einnehmenden Freundlichkeit, kessen Leutseligkeit und goldigen Knuffigkeit, mit der Lena Meyer-Landrut - es klingt unglaublich abgedroschen, trifft aber ausnahmsweise voll ins Schwarze - zuvor die Herzen im Sturm erobert hat.

Lena ist ein Symptom unserer Mediengesellschaft


Ist Lena Meyer-Landrut also ein Vorzeigebeispiel neu gewonnenen deutschen Selbstbewusstseins? Das Paradeexempel dafür, dass jeder alles schaffen kann, wenn er nur will? Und dass man mit diesem Willen jede Grenze überwinden kann? Gemach. Sie ist eine sehr attraktive Frau, sie hat einen exzellenten Song auf den Leib geschneidert bekommen, es mangelte ihr nicht an Selbstbewusstsein, es hat alles perfekt gepasst, und sie hat sich mit Chuzpe, aber natürlich auch einem Quäntchen Glück beim Vorentscheid wie auch in Oslo durchgesetzt. Das darf man nicht gering schätzen, aber auch nicht überbewerten. Und als neues deutsches Fräuleinwunder verklären sollte man es erst recht nicht.

Lenas Triumph ist vor allem Symptom unserer Mediengesellschaft und unseres Eventhungers. Vierzigtausend empfingen sie in Hannover, Leute saßen auf einmal am Grand-Prix-Abend vor dem Fernseher, die man in den Vorjahren hätte vor die Mattscheibe prügeln müssen. 14,69 Millionen Zuschauer verfolgten auf der Couch oder beim Public Viewing ihren Sieg, tagelang berichteten alle Medien, vorab und hinterher und längst nicht nur in Deutschland, ihr Titel "Satellite" wurde so oft gedudelt, dass man fast hätte Ohrenmuskelkater bekommen können.

2010 wird ein wegweisendes Jahr


Aber das alles, der kleine Traum vom Glück und der Wunsch nach Teilhabe daran, ist ja nicht schlimm und erst recht nicht zu geißeln. Dass Lena Meyer-Landrut anschließend nicht durch ausnahmslos jede Talkshow getingelt ist, dass es keine Homestorys gab und sie kein einziges Mal auch nur das geringste Aufheben um ihre Person gemacht hat - das ist womöglich das eigentlich Sympathische an ihr. Manch ein Verteidigungsminister könnte sich davon gewiss ein Scheibchen abschneiden.

Ob Lena einmal als ernsthafte Künstlerin oder als Eintagsfliege in die Popgeschichte eingeht, wird sich allerdings weisen - vielleicht schon nach ihrer Tournee im kommenden Frühjahr. Am 28.April tritt sie auch in der Stuttgarter Schleyerhalle auf. Es gibt noch reichlich Tickets.