Seit fast 30 Jahren bringt die Stuttgarterin Lena Seel Abgeordneten des Europäischen Parlaments Deutsch bei. Das Angebot ist gefragt, denn entscheidende Absprachen kommen oft dort zustande, wo keine Dolmetscher mit von der Partie sind.

Brüssel - Juan Fernando López Aguilar hat kaum angefangen von seiner Arbeit zu erzählen, da ist er schon bei den Kopfhörern angekommen. Sie passen in jede Handtasche, in jeden Rucksack, sie sind überall hier in Brüssel: im Büro, auf der Hantelbank, im Bett. „Ich bin so stolz“, sagt Aguilar, seit 2009 für die spanischen Sozialisten im Europäischen Parlament, „dass ich Martin Schulz jetzt ohne Kopfhörer verstehen kann.“ Ein kleines Wunder sei das.

 

Kopfhörer schotten ab. Normalerweise. Mit ihnen hört jeder, was er will. Jeder für sich allein. Stöpsel in den Ohren machen es unmöglich, die Menschen um sich herum zu verstehen. Anders liegen die Dinge im Europäischen Parlament. 751 Menschen aus 28 Staaten machen hier in 24 offiziellen Sprachen Politik. Etwa eine Milliarde Euro gibt die EU jedes Jahr für Dolmetscher und Übersetzungen aus. Ohne Kopfhörer wäre es vielen Abgeordneten unmöglich, auch nur ein Wort ihrer Kollegen zu verstehen. Ob Spanisch, Schwedisch oder Slowenisch, Polnisch oder Portugiesisch, ob Deutsch oder Dänisch: Die Delegierten dürfen sich aussuchen, in welcher Sprache sie im Plenarsaal ihre Reden halten. Zuhören kann jeder in seiner Muttersprache. Kopfhörer bringen die Stimmen der jeweiligen Simultandolmetscher ins Ohr.

Lena Seel Foto: Warrlich
Klingt praktisch? Juan Fernando López Aguilar sieht das anders. Der Abgeordnete von den Kanaren will wegkommen von den Kopfhörern. Nur dann, glaubt Aguilar, kann er wirklich erfolgreich sein. Wirklich einflussreich. Und hier kommt Lena Seel ins Spiel.

In ihrem Büro hat Aguilar an diesem Morgen eine Deutschstunde. Die 63-Jährige – graue Haare, blaue Brille und den Hausausweis fast immer um den Hals gehängt – soll ihm die „Machtsprache der Institutionen“, wie er sagt, beibringen. In der Hektik auf den Gängen im Brüsseler Parlamentsgebäude, umgeben von Menschentrauben an Kaffeebars, überfüllten Aufzügen, unübersichtlichen Informationsständen, ist Lena Seels Büro eine Oase der Ruhe. Viel Pflanzen. Ein Ausdruck von Rilkes „Die hohen Tannen atmen“ auf dem runden Holztisch. An der Pinnwand eine bunte Deutschlandkarte mit den Bremer Stadtmusikanten im Norden, der Zeche Zollverein, dem Mercedes-Stern im Süden. „Den zeige ich meinen Schülern am liebsten“, sagt Seel und lacht.

Sprache im Allgemeinen und Deutsch im Speziellen spielt im Europäischen Parlament eine besondere Rolle. Hier fehlt der klassische Gegensatz von Regierung und Opposition. Für jede Abstimmung finden sich wieder neue Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die ein bestimmtes Gesetz durchbringen oder blockieren wollen. Verhandeln und netzwerken ist viel wichtiger als in anderen Parlamenten. Entscheidende Absprachen, so schildern es Abgeordnete, kommen in Brüssel und Straßburg oft bei informellen Treffen in Restaurants oder Cafés zustande. Pilzragout, Pannacotta – und am Ende ein Pakt, im Idealfall. Dolmetscher sind da nicht mit von der Partie. Man muss sich ohne Kopfhörer verstehen.

Mit einem Italiener erst über die Familie sprechen!

Als Abgeordneter sei ihm schnell klar geworden, dass er Deutsch lernen muss, sagt Aguilar, „koste, was wolle“. Lena Seel muss bei der Redewendungen noch etwas nachkorrigieren. Knapp 100 der 751 EU-Abgeordneten kommen aus Deutschland. Weitere 18 aus Österreich, sechs aus Luxemburg. Hinzu kommen deutschsprachige Abgeordnete aus Norditalien und Belgien. Sechs Parlamentspräsidenten kamen bislang aus Deutschland. Lange Zeit war ein Großteil der acht Fraktionen von Deutschen dominiert. Spätestens seit der Wiedervereinigung, mit der das Gewicht Deutschlands innerhalb der EU-Institutionen erheblich zunahm, ist Deutsch eine sehr gefragte Sprache.

Lena Seel ist die einzige der sieben fest angestellten Sprachlehrer am Europäischen Parlament, die Deutsch unterrichtet. 5000 Euro hat jeder Abgeordnete im Jahr für Sprachunterricht zur Verfügung. Knapp 290 der 751 Abgeordneten haben nach Angaben des EU-Parlaments im Jahr 2015 von dem Geld Gebrauch gemacht und Sprachunterricht genommen.

Verhandlungssicher will Lena Seel ihre Schüler machen, nicht nur in Aussprache und Grammatik, auch in kulturellen Fragen. „Mit einem Italiener müssen Sie erst einmal über die Familie reden. Über das Essen, das Wetter, die letzte Woche, darüber, wie der Tag war. Und dann kommen Sie erst zu dem, was Sie eigentlich von ihm wollen.“ Bei ihrer eigenen Nationalität hingegen rät Seel zum kurzen Prozess. „Sagen Sie als Allererstes, was Sie wollen!“ Familie, Wetter, Essen, Theater, letzte Woche, diese Woche? Viel zu viel Small Talk für deutsche Gemüter. Da haben die längst abgeschaltet.“ Manchmal spricht Seel über die Deutschen, als würde sie gar nicht dazugehören.

„Wir waren die Flüchtlinge von heute“

Wo sich der Neckar rechts am Hallschlag vorbei und links um Hofen herum in einer Schlaufe windet, nur eine halbe Stunde zu Fuß vom Max-Eyth-See entfernt, ist Lena Seel aufgewachsen. Viele Zuwanderer aus Osteuropa hätten damals in Steinhaldenfeld gewohnt, erinnert sie sich. Auch ihre Eltern waren aus der Sowjetunion nach Stuttgart gekommen. „Wir waren damals die Flüchtlinge von heute“, sagt Lena Seel. Umgeben von Polen, Litauern, Georgiern aufzuwachsen habe sie von klein auf zu einer „Europäerin im Herzen“ gemacht, wie sie sagt. Und zu einer Frau, der fremde Sprachen leicht über die Zunge gehen. Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch spricht sie fließend, dazu ein wenig Luxemburgisch. Italienisch, Polnisch und Ukrainisch kann sie zumindest verstehen.

Nach dem Studium – Übersetzen und Dolmetschen für Russisch – fand Seel in diesem Beruf kaum Arbeit. Viele Russlanddeutsche, die dolmetschen konnten, seien zu der Zeit nach Deutschland gekommen und hätten den Job für weniger Geld gemacht. Also folgte Seel einem Kommilitonen nach Luxemburg, um an dessen Sprachschule als Deutschlehrerin zu arbeiten – und entdeckte, dass auch das Europaparlament, dessen Generalsekretariat in Luxemburg sitzt, nach Sprachlehrkräften sucht.

Oft bringen die Abgeordneten Reden mit, die sie auf Deutsch halten wollen. Oder sie müssen sich für Auftritte in deutschsprachigen Medien vorbereiten. „Es kostet schon Überwindung, den Mund zu halten, wenn jemand etwas sagen möchte, mit dem man so gar nicht einverstanden ist“, sagt Lena Seel. Doch sie bleibt konsequent. Verbessert Grammatik, hilft mit Fachbegriffen, Namen von Behörden – und lässt den Inhalt unangetastet. „Etwas anderes stünde mir gar nicht zu.“

Oettingers Englisch: eine Qual

Eine fremde Sprache gut zu beherrschen ist für Seel nicht nur der Weg zu mehr politischem Einfluss, sondern gerade in Europa auch ein Gebot der Höflichkeit. In der Vorwoche, erzählt sie, habe es einen Gipfel zur Digitalisierung gegeben. Günther Oettinger sprach dabei auf Englisch. Die ganze Rede habe sie sich angehört. „Es war eine Qual“, sagt sie. Bei ihrem Stolz packe sie der Mann. „Schließlich war er auch mal mein Landesvater.“ Nichts, sagt Seel, sei schlimmer als falsche Betonungen. „Wenn ich ihn sehe, werde ich ihn darauf ansprechen. Da habe ich überhaupt keine Hemmungen.“

Etwa 50 Abgeordnete hat sie unterrichtet, seit sie 1989 mit dem Job begann. Nick Klegg war darunter, der nach seiner Zeit im Europäischen Parlament Vizepremier in Großbritannien wurde. Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo und Hassfigur der Mafia, sei häufig mit Polizeischutz im Parlament eingetroffen. Auch Vytautis Landsbergis, kommisarisches Staatsoberhaupt Litauens nach der Unabhängigkeit 1990, hat Seel unterrichtet. Und José María Gil-Robles, bevor er Ende der 90er Jahre Präsident des EU-Parlaments wurde. Politisch links, rechts, prominent oder unbekannt: In ihrem Büro, das betont Seel wiederholt, spiele das alles keine Rolle. Kasus, Genus, Numerus sind die Kategorien, die hier zählen. Neutral zu bleiben fällt Seel leichter, weil ihre eigene Partei keinen Sitz im EU-Parlament hat. Seel ist Mitglied der Feministischen Partei Die Frauen. Einige Jahre lang war sie Schatzmeisterin.

An diesem Freitagnachmittag in Brüssel nimmt Seel zum Abschluss einer langen Arbeitswoche einen selbst gebastelten Kalender mit kleinen Überraschungen für ihre Schüler von der Wand, legt ihn in einen großen, roten Koffer und verabschiedet sich von ihren Kollegen im Zimmer nebenan: „Bis nächste Woche dann in Straßburg!“ Zwölfmal im Jahr hat das EU-Parlament seine Vollversammlung in Straßburg. Dort ist sein offizieller Sitz, während die EU-Kommission und viele andere wichtige Institutionen in Brüssel sind. Die EU ist ein gewaltiger Reisezirkus. Immer mit im Tross: Leute wie Lena Seel. Für jeden Einzelnen wird dann der rote Koffer, der an eine Seekiste erinnert, hin- und hergekarrt.

Noch mindestens zwei Jahre, bis sie 65 ist, will Lena Seel am Parlament arbeiten. Und auch danach mit Europa nicht Schluss machen, sondern junge Menschen davon überzeugen, dass die EU wichtig ist – „dass wir nur gemeinsam ins Gewicht fallen“.

Und Juan Fernando López Aguilar? Wie seine politische Zukunft aussehe, sagt der spanische Sozialist, sei schwer vorauszusagen. „Aber wenn ich irgendwann aus dem Parlament ausscheide und einigermaßen Deutsch kann, wird das mein größter Sieg sein.“