Wo bis Juni Azubis wohnten, leben jetzt Flüchtlinge. Bis zum Frühjahr soll die kreiseigene Sammelunterkunft am Krankenhaus voll belegt sein. Die Menschen sind vor Krieg, Terror und Armut nach Deutschland geflohen. Doch hier kämpfen sie mit der Bürokratie, der Ungewissheit und schrecklichen Erinnerungen.

Leonberg - Der Jugendherbergs-Charme des ehemaligen Azubi-Wohnheims ist geblieben. Hellgelbe Wände, blaue Türen, die von den breiten Fluren in die Zimmer führen. Der Boden ist mit einem dunklen Teppich bedeckt, der die Schritte auf den Gängen dämpfen soll. Das funktioniert gut. Dennoch kann es laut werden. „Wenn die Türen zugehen, das knallt ganz schön“, sagt Christina Elfeldt, die sich als Sozialbetreuerin um die derzeit 74 Asylbewerber in der Gemeinschaftsunterkunft am Leonberger Krankenhaus kümmert.

 

Ende des vergangenen Jahres hatte der Landkreis Böblingen, dem das Areal und die Gebäude um die Klinik gehören, dem Azubi-Wohnheimbetreiber Internationaler Bund gekündigt. Bis zum Juni mussten die Auszubildenden, die die gegenüberliegende Berufsschule besuchen, ausziehen. Der Platz wird gebraucht für die immer größer werdende Zahl an Flüchtlingen. Schritt für Schritt wurden das zweistöckige Gebäude sowie das Obergeschoss eines weiteren Hauses umgebaut, um bis zu 140 von ihnen aufzunehmen. Jede Woche kommen fünf bis zehn neue an, bis zum Frühjahr soll die Unterkunft voll belegt sein.

74 Flüchtlinge leben bereits hier, davon 23 Kinder. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Mazedonien, Bosnien, Albanien, Serbien, Georgien, dem Iran und der Türkei. Die meisten sind erst wenige Wochen in Deutschland und direkt aus der Landesaufnahmestelle in Karlsruhe nach Leonberg gekommen.

So wie Mursal Rasekh. Die 24-Jährige kam gemeinsam mit ihrer 16 Jahre alten Schwester und der Mutter vor zwei Monaten in München an. Da hatten die drei Frauen aus Afghanistan eine drei Monate lange Odyssee hinter sich. „Wir sind mit dem Auto über Pakistan bis in die Ukraine gefahren. Dort mussten wir zu Fuß über die Grenze. Über Österreich ging es dann weiter nach München“, erzählt Mursal. 8000 Euro pro Person haben sie Schleppern dafür bezahlt, sie nach Deutschland zu bringen. Dafür hat die Familie alles verkauft. Ihre ältere Schwester ist in München, den Vater verloren sie auf dem Fußmarsch in die Ukraine. Er habe einer anderen Familie mit kleinen Kindern geholfen. „Wir haben nichts von ihm gehört. Zwei Monate lang. Vor ein paar Tagen kam ein Anruf, er ist zurück in Pakistan“, sagt sie stockend. Ihre Mutter fängt an zu weinen, auch Mursal kommen die Tränen.

Das Zimmer teilen sich die drei Frauen. Mursals Mutter schläft in einem einzelnen Metallbett, sie selbst und ihre Schwester haben ein Stockbett. Die rosafarbene Bettwäsche verströmt Kleinmädchen-Charme. Alles ist sauber und aufgeräumt. Ein Kühlschrank summt vor sich hin. Darauf sind ordentlich verschiedene Teddybären aufgereiht. Von ihrem Fenster aus können Mursal und ihre Familie über Leonberg hinweg bis zum Engelberg sehen. „Wir sind so glücklich, dass wir hier sind. Und wir sind den Menschen so dankbar, dass sie uns aufnehmen. Das soll unbedingt in der Zeitung geschrieben werden.“

Gleich nach ihrer Ankunft in Leonberg kommen die kleinen Kinder in den Clara-Grundwald-Kindergarten, die größeren in eine internationale Vorbereitungsklasse, die an vier Schulen angeboten wird. Mursals Schwester ist sogar schon so gut, dass sie ein Gymnasium besuchen kann. Die Erwachsenen beginnen ebenfalls so schnell wie möglich mit dem Deutschunterricht, den zwei ehemalige Lehrerinnen ehrenamtlich anbieten.

In jeder freien Minute lernt Mursal Rasekh dafür. An der Wand über dem kleinen Esstisch hängen gelbe Klebezettel. Damit übe sie ihre Vokabeln, erklärt die 24-Jährige. „Ich bin, du bist“ ist auf einem zu lesen, darunter fremde Schriftzeichen. Auf dem Zettel daneben steht „Selbstmordanschlag“. Warum sie nach Deutschland gekommen ist? Mursal senkt den Blick und weint leise. Sie schüttelt leicht den Kopf.

Die Angst vor Verfolgung, der Frust des Nichtstun

Es ist 12 Uhr mittags. Auf dem Gang ist viel los. Ein paar Männer stehen zusammen und unterhalten sich. Es ist ein Mischmasch aus Farsi, einer persischen Sprache, Englisch und Deutsch. Auch in der Küche herrscht Hochbetrieb. Drei Küchen pro Etage gibt es für die Bewohner. Eine Frau aus Syrien, in ein Kopftuch mit Leopardenmuster gehüllt, kocht Makkaroni. Das mögen ihre Kinder. Daneben steht eine andere Frau aus dem Iran – ohne Kopftuch. „Wir sind vom Islam zum Christentum konvertiert“, sagt sie und rührt in dem persischen Reisgericht mit Hühnchen, das den Raum mit dem Duft vieler Gewürze erfüllt. Um ihren Hals trägt sie eine Kette mit einem winzig kleinen Kreuz daran. „Die Mullahs haben gesagt, Konvertiten müssen getötet werden“, erzählt sie. Deshalb floh sie mit ihrer erwachsenen Tochter und ihrem fast volljährigen Sohn. Zuerst in die Türkei, von dort nach Deutschland. Ihren Namen möchte die Frau nicht nennen. Ihr Ehemann ist noch im Iran, sie hat Angst, dass dann etwas passiert.

Feras Alrawasheh ist ungeduldig. Der junge Mann aus Syrien möchte auch unbedingt seine Geschichte erzählen. „Meine Frau Dyala und ich sind seit vier Monaten in Deutschland“, sagt er in fast perfektem Deutsch. Warum er Syrien verlassen hat? „Jeder kennt die Situation dort“, sagt er abwehrend und spricht schnell über etwas anderes. Feras ist Arzt, seine Frau Anwältin. Sie wollen arbeiten, so schnell wie möglich. „Wenn man als Mediziner sechs Monate nicht arbeitet, vergisst man das ganze Wissen, das man braucht“, sagt der junge Syrer. Wann über ihren Asylantrag entschieden wird, das weiß keiner. Manchmal dauert es nur wenige Monate, manchmal bleiben die Menschen zwei Jahre in den Gemeinschaftsunterkünften. Oft bekommen die Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien nur eine Duldung ausgesprochen. Bis vor kurzem hieß das noch: keine Arbeitserlaubnis. Mittlerweile wurde diese Regelung gelockert. Auch Flüchtlinge ohne permanente Aufenthaltsgenehmigung, aber mit Duldung, dürfen jetzt in Deutschland arbeiten.

Das Nichtstun und die Ungewissheit setzen dem Ehepaar zu. Immer öfter streiten die beiden. „Der immer gleiche Tag hier macht depressiv. Aufstehen, Mittagessen, schlafen. Wir wollen etwas tun“, sagt Feras mit Nachdruck. Er ist mit einem Visum für drei Monate nach Deutschland gekommen. Dyala dagegen war 1,5 Monate mit Schleppern unterwegs. „Wir sind mit dem Auto in die Türkei gefahren und von dort mit dem Boot nach Griechenland. Dann sind wir bis nach Kroatien zu Fuß gegangen“, erzählt die junge Frau. Sie seien dankbar für das Dach über ihrem Kopf, aber sie möchten so schnell wie möglich raus aus der Flüchtlingsunterkunft. Sie wollen selbstständig sein, zurück in ein normales Leben, ohne Krieg und Bomben, ohne sich eingesperrt zu fühlen.

Flüchtlinge warten auf ihre Papiere

Dawood Quraishe stammt ebenfalls aus Afghanistan. Er hat in der Armee gedient. Als seine Eltern getötet wurden, floh er mit seiner Familie in den Iran. „Dort fallen zwar keine Bomben. Aber als Afghane hat man im Iran nur Schwierigkeiten. Die Iraner mögen uns nicht“, sagt der Mann Mitte 40. Die Kinder dürften etwa nicht in die Schule gehen. „Aber Deutschland ist ein gutes Land. Mein Sohn geht jetzt hier in die Schule. Und hoffentlich findet meine Frau bald Arbeit als Schneiderin“, sagt er hoffnungsvoll.

Bis dahin muss die Familie aber noch viele Hürden nehmen. Die größte davon heißt Bürokratie. Viele von den Flüchtlingen in Leonberg sind noch nicht einmal offiziell Asylbewerber. „Es kommen so viele Flüchtlinge in der Landesaufnahmestelle in Karlsruhe an, dass sie ganz schnell auf die Landkreise verteilt werden“, sagt Christina Elfeldt, die Sozialbetreuerin in der Unterkunft. Normalerweise werden die Flüchtlinge dort mit allen Daten erfasst, darunter auch Fingerabdrücke. Zudem müssen sie sich untersuchen lassen, etwa auf Tuberkulose. „Nur, wenn sie diese Untersuchung haben, können sie einen Termin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Karlsruhe machen, um ihren Asylantrag zu stellen“, erläutert die Kreismitarbeiterin das Prozedere. Damit sollen die Angestellten der Behörde geschützt werden. Vielen Bewohnern in Leonberg fehlt diese Untersuchung noch. Aber kein Antrag – keine Papiere.

So geht es auch Samira. Die 24-Jährige aus Afghanistan lebt mit ihren beiden kleinen Töchtern in der Leonberger Unterkunft. Ihr Mann dagegen wurde in Griechenland aufgegriffen. „Wenn ich einen Ausweis bekomme, kann ich den dorthin faxen. Dann kann mein Mann zu uns kommen“, sagt die junge Frau. „Jeden Tag fragen mich meine Töchter: Wo ist Papa? Dann weinen sie. Das ist sehr schwer.“ Auch ihr kommen die Tränen. Aber ihre Kinder seien hier glücklich. Sie selbst helfe im Clara-Grunwald-Kindergarten in der Gartenstadt, den ihre Kleinste besucht.

Einige Bewohner der Unterkunft gehen einer gemeinnützigen Arbeit nach wie Samira. Ein paar helfen im Diakonieladen, wo sich die Flüchtlinge für kleines Geld Kleidung und andere Dinge kaufen können, die zuvor gespendet wurden. Andere helfen in der Unterkunft, putzen, unterstützen beim Ein- und Auszug, schauen nach dem Rechten. „Das funktioniert sehr gut. Alle verstehen sich prima, das ist wie eine große Familie“, meint die Sozialbetreuerin Christina Elfeldt, die in anderen Unterkünften auch schon gegensätzliche Erfahrungen gemacht hat. Natürlich verlaufe nicht immer alles reibungslos. Auch hätten die Flüchtlinge manchmal unrealistische Vorstellungen von Deutschland. „In einer anderen Unterkunft war mal ein Ägypter da, der hatte seinen Schleppern 30 000 Euro gezahlt. Dafür hatten die ihm in Deutschland eine Suite versprochen. Er ist aus allen Wolken gefallen, als er sich dann mit acht anderen Männern ein Zimmer teilen sollte“, berichtet die Kreismitarbeiterin. Viele hätten gar keine richtige Vorstellung von Deutschland, die Schlepper würden ihnen das Blaue vom Himmel vorlügen.

Wir sind nur wegen unserer Kinder hier. Wir wollen, dass sie ein gutes Leben haben“, sagt Orhan Bajramov in perfektem Deutsch. Der Mazedonier lebt mit Frau und zwei Kindern in einem größeren Zimmer. „Wir hatten kein gutes Leben in Mazedonien. Keine Arbeit, die Kinder durften nicht in die Schule, keine Zukunft“, sagt seine Frau Zumrutka. Sie sind Muslime, sagt Orhan zur Erklärung. In Mazedonien hätten sie damit einen schweren Stand. Doch die Chancen für die Familie, in Deutschland bleiben zu können, stehen schlecht, besonders, seit die Bundesregierung im September das Asylrecht verschärft hat. Seitdem werden Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Drittstaaten eingestuft, in denen ethnischen oder religiösen Minderheiten keine Verfolgung drohe. „Ich will, dass es meinen Kindern gut geht. Wenn sie krank sind, kann ich sie hier zum Arzt bringen. In Mazedonien geht das nicht. Dort muss ich dem Arzt Geld zahlen, damit er sie überhaupt behandelt“, sagt der junge Mann. Aber woher solle er Geld haben, wenn er als Muslim keine Arbeit bekomme?

Das Trauma des Terrors

Mursal Rasekh hat in Kabul als Lehrerin an einer Mädchenschule gearbeitet. Für die radikalen Taliban gleich zwei Todsünden auf einmal. Eine Frau, die arbeitet, und jungen Mädchen Bildung vermittelt. Dafür wurden sie und ihre Familie bedroht. Immer wieder benutzt die junge Afghanin das Wort „Tod“ und fährt sich mit dem ausgestreckten Finger über die Kehle. Sie fängt an zu erzählen und kann nicht mehr aufhören. Sie ist zurück in den Straßen von Kabul. Wo sie als Achtjährige in einer Straße voller Leichen nach ihrem Vater suchte, weil die Taliban verkündeten, sie hätten ihn erschossen. Wie sie Menschen ohne Kopf oder Arm, ohne Augen oder Hände gesehen und umgedreht habe, um ihren Papa zu finden. Der aber lebte. Dem sie und ihre Schwester später versprechen mussten, sich zu verschleiern, um nicht von den Taliban getötet zu werden, für die ein Leben wenig zählt, erst recht nicht das einer Frau.

Sie berichtet von ihrer Zeit an der Universität in Kabul, als alles besser zu werden schien. Nur um dann viele ihrer Kommilitonen bei einem Selbstmordattentat zu verlieren. Das Gesicht ist Tränen überströmt, ihre schmalen Hände zittern. Sie redet abwechselnd auf Deutsch und Englisch. Ihre Schwester übersetzt für die Mutter. Mursals Familie ist schwer traumatisiert. Bald dürfen sie nach München, wo ihre große Schwester lebt. Dann bekommt die Familie eine Traumatherapie. Ob sie irgendwann zurück will nach Afghanistan? „Nein“, ruft die Mutter aufgeregt. Nicht dahin zurück. Mursal hat wenig Hoffnung für ihr Land. Sie sieht die vielen kleinen und großen Probleme. Sie zeigt auf den Fernseher. „Ich schaue jeden Tag BBC. Jeden Tag 40 oder 50 Tote in Afghanistan. Jeden Tag.“ In Deutschland hat sie keine Angst mehr vor Bomben. Aber bis sie sich wieder sicher fühlen kann, das wird noch lange dauern.