Das Kartenhaus droht einzustürzen: Wenn nur einzelne Ärzte die Behandlung von Opiat-Abhängigen einstellen, droht in der Region laut Experten eine offene Drogenszene – Dealer, Junkies und Beschaffungskriminalität inklusive.

Leonberg - Heroin ist eine der tödlichsten Drogen. Alternativ gibt es in Deutschland bisher noch eine fast flächendeckendes Versorgung der Abhängigen mit der Ersatzdroge Methadon. In ganz Europa gilt Deutschland dabei als Vorbild. Wie fragil diese vorbildliche System jedoch ist, zeigt sich derzeit in Leonberg. Ein einziger Arzt spielt mit dem Gedanken, seine Praxis aufzugeben. Nun droht dem ganzen Landkreis eine offene Drogenszene

 

Günter Reuchlin hat seine Praxis am Leonberger Marktplatz. Von dort aus versorgt er rund 120 Patienten mit Methadon – und führt eine Fehde mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, kurz KV.

Seit den 90er Jahren beschäftigt sich Reuchlin mit der Suchtmedizin. Im Gefängnis Stuttgart-Stammheim kam er als Arzt erstmals damit in Berührung. Seither versucht er seinen Patienten zu helfen – manchmal jedoch auf eine Art, mit der die KV nicht ganz einverstanden ist.

Sein Geduldsfaden drohte zu reißen. Reuchlin sagte: „Ich höre auf.“ Seine Praxis wollte er Anfang 2012 schließen. Seine 120 Patienten wären dann auf der Straße gestanden – noch immer hochgradig abhängig und ohne Chance, ihre Ersatzdroge legal zu bekommen.

Gut anderthalb Jahre später arbeitet Reuchlin noch immer in seiner Leonberger Praxis. Nach inständigen Bitten seiner Patienten und von offizieller Seite setzte der Mediziner folgendes Ultimatum: „Ich mache weiter, aber nur wenn sich grundlegend etwas ändert.“ In der Zwischenzeit wurden unzählige Gespräche zwischen KV, Landkreis, Stadt, Polizei, Klinikverbund Südwest und Ärzteschaft geführt. Das Ergebnis: nichts hat sich geändert.

Reuchlin ist kein Einzelfall: „Die Ärzte werden weniger, die Patienten hingegen nicht“, sagt Uwe Zehr. Er ist der Leiter des Suchthilfezentrum Sindelfingen, einer Einrichtung, die sich im gesamten Landkreis mit dem Thema Drogen beschäftigt. „Dabei ist die Betreuung Opiat-Abhängiger für die gesamte Gesellschaft wichtig“, betont der Experte.

Werden die Süchtigen legal mit Methadon versorgt, können sie arbeiten und haben die Chance, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Gut die Hälfte der Patienten von Reuchlin hat einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. „Bricht die medizinische Versorgung jedoch ab, werden zuerst Arbeitgeber und Familie ausgebeutet“, sagt Zehr. Die Angst vor dem kalten Entzug werde dann zum alles bestimmenden Faktor. „Wenn zu Hause und in der Firma nichts mehr zu holen ist, verlegen sich die Menschen auf Beschaffungskriminalität. Es entsteht eine Drogenszene, erklärt Zehr.

Reuchlin stellte den Abhängigen Bedingungen: Wer Methadon bekommt, darf keine weiteren Drogen konsumieren. „Ich hatte einen Patienten, der hat gesoffen“, sagt der Arzt. „Die KV wollte, dass ich die Substitution beende. Doch das habe ich nicht getan“, sagt er. „Hätte der Mann kein Methadon mehr bekommen, wäre die Chance hoch gewesen, dass er wieder illegale Drogen konsumiert“, sagt Reuchlin. Heute hat der Patient wieder einen Führerschein, einen Job und kümmert sich um seine Familie.

An solchen Fällen entzündet sich der Streit zwischen dem Arzt und der KV, der mittlerweile Aktenordner in Reuchlins Praxis füllt und dem Arzt die Lust an seinem Beruf weitgehend genommen hat. „So wie es jetzt ist, mache ich nicht mehr lange weiter“, sagt er. Ein definitives Enddatum will er momentan jedoch nicht nennen.

Wie groß das Problem in der Suchtmedizin tatsächlich ist, zeigt sich, wenn Uwe Zehr einen Blick in die Region wirft. „In Kürze sprechen wir nicht mehr von 120 Patienten, die ohne Arzt dastehen“, sagt er. „Im nordwestlichen Landkreis sind zwei Mediziner im Rentenalter“, sagt der Suchthilfe-Chef. „Die beiden betreuen zusammen weitere rund 200 Menschen“, so Zehr. „Das Problem besteht in ganz Deutschland“, beklagt auch Jörg Litzenburger. Er ist beim Landratsamt für den Bereich Suchthilfe und Prävention verantwortlich. Die Arbeit mit Suchtkranken ist für die Mediziner weniger einträglich als andere Fachrichtungen. Mit dem Job sind juristische Gefahren und eine Menge Bürokratie verbunden. „Überall fehlt es an Nachwuchs“, sagt Litzenburger.

Die Fachleute sind sich einig: Wenn Patienten ihren Arzt verlieren, haben sie so gut wie keine Chance, wieder einen Therapieplatz zu bekommen. „Es ist absolut unrealistisch, dass die 120 Patienten Reuchlins in der Region wieder einen Arzt finden“, sagt Uwe Zehr.

Die Aufgabe, die medizinische Versorgung – und somit auch die Betreuung der Suchtkranken – sicherzustellen, liegt bei der KV. Als bekannt wurde, dass Reuchlin seine Praxis schließen wollte, startete die KV seinerzeit eine Umfrage: „Es wurden die Praxen in der Umgebung angeschrieben, die Substitution durchführen“, erklärt Kai Sonntag, der KV-Pressesprecher.

Bisher wurde stets behauptet, der größte Teil der Abhängigen könnte einen Platz bekommen. Auf erneute Nachfrage schwächt Sonntag diese Behauptung nun ab: „Rund die Hälfte hätte man unterbringen können.“ Doch selbst das halten die Experten für unwahrscheinlich. „Seit eineinhalb Jahren wissen wir, dass wir auf ein Problem zusteuern und bislang wurde nichts erreicht“, beklagt Zehr.

Auch Litzenburger mahnt: „Wir haben mehrfach bei der KV angefragt, wie die Versorgung künftig aussehen soll. Jetzt ist es Zeit für eine konkrete Antwort.“

Mit der Forderung nach konkreten Taten konfrontiert sagt KV-Sprecher Sonntag: „Wir sehen dafür keine Veranlassung, weil uns nicht bekannt wäre, dass Herr Reuchlin konkret geplant hat, in naher Zeit seine Tätigkeit aufzugeben.“ Man betrachte die Entwicklung in Leonberg und im Land aber insgesamt mit Sorge, teilt der KV-Sprecher weiter mit. „Wir tun, was wir können und arbeiten an einer Lösung“, sagt Sonntag. Wie diese aber genau aussehen soll, will der KV-Sprecher nicht verraten – allem Drängen der Experten zum Trotz.

Sowohl Zehr vom Suchthilfezentrum als auch der Suchtbeauftragte des Kreises, Litzenburger, plädieren angesichts der vergangenen Monate für eine Lösung, die unabhängig von einzelnen Personen funktionieren muss. Dabei wissen beide, dass ein solches Modell nahezu unerreichbar ist.

Denn im vergangenen Jahr ist genau das gescheitert. Der Klinikverbund wollte ein medizinisches Versorgungszentrum einrichten. Reuchlin hätte weiter als Arzt arbeiten können. Die Bürokratie wäre am Verbund hängen geblieben.

Das Projekt scheiterte jedoch am Widerstand der Leonberger Ärzteschaft. „Wir sind dagegen, weil wir befürchten, dass sich der Klinikverbund in unserem Bereich ausbreiten könnte“, sagte Peter Ruck, der stellvertretende Vorsitzende der niedergelassenen Ärzte der Stadt im November 2012.

Beim Blick in die Zukunft wird Suchthilfechef Zehr angesichts dieser Entwicklung pessimistisch: „Ich befürchte, es wird sich erst etwas ändern, wenn Probleme wie Drogentote und Heroinsucht wieder offen zu Tage treten.“