Auch im Winter reißt der Flüchtlingsstrom auf der griechischen Insel nicht ab. Täglich kommt es zu dramatischen Szenen an der Außengrenze der EU. Unser Mitarbeiter Bartek Langer war vor Ort und berichtet von seinen Eindrücken.

Leonberg/Lesbos – Der greise Mann ist schon von Weitem zu hören. „Allahu Akbar, allahu Akbar“, schreit er und fasst sich an den Kopf. Dann geht es schnell. Wenige Meter vor der Küste springt ein Dutzend freiwillige Helfer ins Wasser, ziehen das Schlauchboot an Land und helfen den Menschen hinaus. „Welcome, welcome!“

 

Die 50 Ankommenden werden in Rettungsdecken eingepackt, hier ein Lächeln, dort eine Umarmung. Die Männer recken den Daumen in die Luft. Die Frauen, ihre weinenden Kinder fest an sich gedrückt, schluchzen vor sich hin, doch allmählich weicht der Schrecken aus ihren Gesichtern.

Es ist das erste Flüchtlingsboot an diesem Morgen, dem die rund zehn Kilometer lange Überfahrt von der Türkei auf Griechenlands drittgrößte Insel Lesbos gelingt. Am Abend werden es 15 sein.

Die letzten beiden Tage waren ruhig. Am Dienstag wurden 30 Leichen, darunter viele Kinder, an der türkischen Küste angespült, weil ihr Boot gekentert war. „Die Ermittlungen der Polizei haben wohl die Schmuggler vergrault“, vermutet Margo Gromoll. Die Ärztin aus Wisconsin arbeitet ehrenamtlich für die skandinavische Hilfsorganisation „Lighthouse Refugee Relief“, die sich unweit des Örtchens Skala Skamnias im Norden der Insel niedergelassen hat. Die meisten Boote kommen an dem knapp 15 Kilometer breiten Strand an, denn hier trennen Europa von der Türkei nur wenige Kilometer.

Die Nichtregierungsorganisation betreibt ein Transit Camp, in dem sich die Flüchtlinge in beheizten Zelten von ihren Strapazen erholen, es gibt warmes Essen, trockene Kleidung und medizinische Versorgung. „Die meisten kommen unterkühlt oder mit einem Schwächeanfall“, berichtet die Ärztin.

Während im vergangenen Sommer bis zu 100 Boote täglich auf Lesbos ankamen – laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR gelang 2015 mehr als 500 000 Schutzsuchenden die Überfahrt – sind es im Winter deutlich weniger. Doch der Flüchtlingsstrom an der Außengrenze der EU reißt nicht ab. Täglich erreichen Tausende Syrer, Afghanen, Iraker und Nordafrikaner die Ferieninsel im Mittelmeer. Allein in den ersten drei Januar-Wochen kamen knapp 30 000. Waren es anfangs überwiegend Männer, nimmt die Zahl der Frauen und Kinder stetig zu.

Flüchtlinge zahlen 1200 Dollar, Touristen 15 Euro

Wenn alles glatt läuft, dauert eine Überfahrt mit einem motorisierten, aber meist seeuntüchtigen Schlauchboot gute zwei Stunden. Dafür verlangen die Schmuggler bis zu 1200 Dollar pro Person. „Wer nachts oder bei schlechtem Wetter fährt, zahlt meistens weniger“, erklärt ein Iraker, der sein gesamtes Leben in einem Müllsack hinter sich herschleppt. Zum Vergleich: Touristen müssen für die Fahrt mit der Fähre schlappe 15 Euro berappen. Die türkische Küstenwache schaut meistens weg und wenn nicht, dann kassiert sie Bestechungsgelder.

Die genaue Position der Boote können die Helfer am Handy verfolgen. Sobald die Flüchtlinge aufbrechen, geben sie per GPS ihren exakten Standort in eigens dafür erstellten Whats-App-Gruppen ein. Ist ein Boot in Reichweite, rückt die spanische Rettungsorganisation „ProActiva Open Arms“ aus und begleitet die Flüchtlinge sicher zur Küste. Übrigens: die Schwimmwesten der Flüchtlinge bieten keinerlei Schutz – sie sind billige Imitate, die sich bei Kontakt mit Wasser in kürzester Zeit voll saugen.

Was nicht abreißt, ist auch die Hilfsbereitschaft unter den Freiwilligen. Die ehrenamtlichen Helfer, die sich den Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) vor Ort anschließen und ihren Aufenthalt selbst finanzieren, kommen aus der ganzen Welt. Während sich die Politik wegduckt, sind sie die Helden von Lesbos. Die Stephen-Hawking-Schule in Neckargemünd hat sogar zwei Physiotherapeuten freigestellt und für vier Wochen auf die Insel geschickt. „Im Mai kommen wir wieder“, verspricht Christoph Fehn, der auf seiner Rettungsjacke ein Deutschland-Emblem trägt, darunter der Name in Dari, das in Afghanistan gesprochen wird. „Das weckt Vertrauen“, befindet der Therapeut.

Jeder hat seinen besonderen Moment, den er mit anderen teilen will und der ihn darin bestärkt, wiederzukommen. „Meine rührendste Geschichte?“, fragt Ola Johansson, ein Grafikdesigner aus Schweden und erzählt: „Eines Tages kam ein Boot an und noch bevor die Flüchtlinge ausstiegen, rief einer mit ganzer Kraft: ‚Ich bin schwul!’“ Daraufhin habe ein Helfer freudestrahlend erwidert: „Ich auch!“ Doch es gibt auch Geschichten, die an der Menschlichkeit zweifeln lassen. „Einmal hat die türkische Küstenwache ein Kabel ins Wasser geworfen“, erzählt Monica Skilbrei aus Norwegen. „Die Menschen im Boot hielten es für ein Seil und griffen zu. Doch dann stand das Kabel plötzlich unter Strom und die Flüchtlinge kamen mit verbrannten Händen bei uns an“, erinnert sich die Helferin.

Die ganze Insel steht zusammen

Auch in dem Örtchen Skala Skamnias ist die Hilfsbereitschaft ungebrochen. Maria Patricia betreibt hier einen kleinen Supermarkt. „Im Sommer standen an einem Tag 2000 Menschen vor meinem Laden – ohne Geld“, erinnert sich die junge Frau, die ihnen gab, was sie brauchen. „Vielleicht ist es naiv, aber ich denke mir, wenn du Gutes tust, dann widerfährt dir Gutes.“ Auch Rula Kiparissi, die mehr als 30 Jahre in Stuttgart lebte und mit ihrem Mann eine Pension führt, hat eine klare Meinung: „Wir dürfen nicht die Augen verschließen“, sagt sie und hält kurz inne. „Aber wir haben auch keine andere Wahl.“

Wer es bis Lesbos schafft, muss sich früher oder später im Flüchtlingscamp Moria registrieren lassen. Denn nur wer dort von der EU-Grenzschutzagentur Frontex erfasst wird, darf ein Fährticket aufs griechische Festland kaufen und weiterziehen. Das staatlich betriebene Lager, das ohne Zutun der Freiwilligen zusammenbrechen würde, ist ein „Hot Spot“ der EU. Die Lebensbedingungen sind in dem durch Stacheldraht umzäunten Lager katastrophal, nicht einmal die Grundversorgung ist gewährleistet. Gedacht für 400 Leute, tummeln sich hier bis zu 4000 Menschen.

Wer keinen Platz in den wenigen Container-Unterkünften des UNHCR findet, muss auf dem Afghan Hill campieren. Namatullah Razaqi, der noch einen Regenmantel ergattern konnte, um sich vor dem strömenden Regen zu schützen, spart dennoch mit Kritik. „Die Verantwortlichen geben sich Mühe, wir haben Schlimmeres erlebt“, sagt der junge Afghane, der seit zwei Tagen auf dem kahlen Hügel zwischen Müll und Schlamm nächtigt.

Auf der Suche nach Ausweichrouten kommen auch vermehrt Boote an der Küste unweit des Flughafens von Mytilini an, der Hauptstadt von Lesbos. Annemarie Christine Hanisch mustert seit den frühen Morgenstunden den Horizont. Laut Whats-App sind drei Boote unterwegs, die hier erwartet werden. Eine ganze Schar von Helfern hat sich eingefunden. Busse des UNHCR stehen bereit. Die gebürtige Freiburgerin, die in Winterthur lebt, kam mit der NGO „Swiss Cross“ auf die Insel. Zwei Monate will sie bleiben. „Wenn es die Nerven zulassen“, sagt die Zahntechnikerin. Als sie Harald Höppner, den Initiator von Sea Watch, der einst bei Günther Jauch eine Schweigeminute erzwang, im Fernsehen sah, reifte ihr Entschluss. „Ich musste was tun!“

Wie viele Menschen noch in der Türkei auf die Überfahrt nach Lesbos in der schlimmsten Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs warten, kann niemand sagen. Schätzungen zufolge dürften es aber Hunderttausende sein. Der Syrer Imran Abu Hadeer hat es geschafft. Der Ingenieur, der so schnell wie möglich in Richtung Deutschland aufbrechen möchte, ist sich sicher: „Mit der Bootsüberfahrt habe ich das Schlimmste hinter mir!“ Elf Tage später sitzt er in einer Gemeinschaftsunterkunft in pfälzischem Zweibrücken.