Ob Liebeskummer oder Depressionen: Alexandra Harter hilft bei der Jugend-Notmail jungen Menschen zurück ins Leben. Per E-Mail und völlig anonym.

Leonberg - Sie habe mit ihrem Leben abgeschlossen und werde sich umbringen, stand in einer E-Mail, die neulich im Postfach von Alexandra Harter gelandet war. „Das Mädchen hatte die Schule geschmissen, nachdem sie permanent gemobbt worden war“, erzählt die 31-Jährige über die mutlose Absenderin. Am Ende habe sich diese kaum mehr aus der Wohnung getraut. „Sie war fest davon überzeugt, dass sie niemand ausstehen kann“, berichtet Harter.

 

Mails wie diese trudeln bei ihr regelmäßig ein. Die Leonbergerin engagiert sich ehrenamtlich bei der Jugend-Notmail – die vom gemeinnützigen Verein „jungundjetzt“ betriebene Online-Beratungsplattform bietet kostenlose Hilfe für Kinder und Jugendliche, die sich mit dem Erwachsenwerden schwertun. Die Psychologie-Studentin ist eine von mehr als 100 Beratern in ganz Deutschland und hat in nahezu jeder Lebenskrise fachkundigen Rat parat. „Ich übernehme fast alles, nur nicht sexuellen Missbrauch“, sagt Harter. „Das überlasse ich doch lieber erfahreneren Kollegen.“

Bislang 40 jungen Menschen aus der Klemme geholfen

Bei ihrer Arbeit geht es um Selbstverletzungen, Depressionen, Liebeskummer, Sexualität, Essstörungen, Schulstress oder eben Mobbing und Suizidgedanken. Aktuell betreut sie eine Schülerin, die Pilotin werden möchte und sich mit Versagensängsten plagt. „Ein anderes Mädchen ist homosexuell, doch ihre Mutter hält die ganze Sache nur für eine pubertäre Spinnerei“, erzählt sie. Meistens seien es Mädchen zwischen 16 und 19 Jahren, die sich bei ihr melden. Bislang hat sie etwa 40 jungen Menschen aus der Klemme geholfen. Umso trauriger stimmt sie der jüngste Selbstmord eines 15-Jährigen in Leonberg. „Es ist tragisch, dass er sich keine Hilfe gesucht oder nicht die richtige gefunden hat“, sagt sie und appelliert an Freunde und Mitschüler, bei Bedarf das Angebot der Jugend-Notmail in Anspruch zu nehmen.

Bei ihrer Beratung sage sie Jugendlichen nicht, was sie tun und lassen sollen. „Wir erarbeiten gemeinsam eine Lösung“, erklärt sie, zumal aus ihrer Sicht immer der Jugendliche der Experte für sein Problem ist. Im Kern drehe sich alles um die Frage nach dem Ziel. „Viele stecken so tief in ihrem Problem, dass sie das Ziel aus den Augen verlieren“, weiß Harter.

Das Ziel sei aber nicht zwangsläufig die Einstellung eines Fehlverhaltens. „Gerade bei einer Essstörung ist das nicht möglich, muss man doch schließlich essen“, sagt sie und erzählt von einem Mädchen, das bei seinen Essattacken den ganzen Süßigkeiten-Schrank leer machte und sich dann übergab, damit sie nicht zunahm. „Am Ende schloss sie die Schokolade ab, und den Schlüssel packte sie in eine Box mit der Aufschrift: ,Willst du das wirklich?’”, erzählt Harter. Damit sei der Automatismus unterbrochen worden. „Hatte sie früher nahezu täglich eine Essattacke, kommt es jetzt nur noch alle paar Wochen dazu“, so die 31-Jährige.

Die Ursachen für die Probleme der ratsuchenden Jugendlichen seien hingegen nebensächlich. „Wenn man die Ursache kennt, bringt es einen häufig nicht weiter“, erklärt Harter und schiebt hinterher: „Viele kennen nicht einmal selbst den Grund. Sie sagen, dass sie depressiv sind, wissen aber nicht warum.“ Universallösungen gebe es nicht: „Man muss immer von Fall zu Fall unterscheiden“, sagt sie, weiß aber auch: „Man kann nicht jedem helfen.“

Damit die Ratschläge ankommen, spricht sie die Sprache ihrer Klienten. Das gelinge ihr ganz gut, zumal sie auch einen neunjährigen Sohn hat. „Was ‚BFF’ bedeutet, musste ich aber auch erst googeln“, sagt sie über die englische Abkürzung für „Best Friend Forever“. Psychologische Fachbegriffe sind tabu. Und ganz wichtig: Duzen! „Dadurch sind wir auf Augenhöhe“, erklärt Harter, die sich damit klar von einer klassischen Therapie abgrenzt. „Bei uns ist es keine Arzt-Patient-Beziehung, es ist viel mehr, als würden sie einer guten Freundin schreiben“, so die 31-Jährige.

Anonymität setzt die Hemmschwelle herunter

Weil alles anonym abläuft, ist die Hemmschwelle niedrig, sich an die Jugend-Notmail-Beraterin zu wenden. „Wenn man zum Psychologen geht, dann heißt es schnell: ‚Du hast wohl einen an der Klatsche!’“, sagt Harter. Und das Gespräch mit den Eltern suchten nur die Allerwenigsten. „Die meisten wollen sie nicht mit ihren Problemen belasten“, berichtet sie. Nur in Ausnahmefällen bleibt nicht alles hinter verschlossenen Türen: „Wenn es konkrete Hinweise für einen Suizid oder eine schwere Straftat gibt, müssen wir die IP-Adresse an die Polizei weitergeben“, erklärt sie. Nicht zuletzt erleichtere auch die Kommunikation über E-Mail den Zugang zu den Kids. Neben Einzelberatung bietet die Plattform auch moderierte Chats zu diversen Themen und ein Diskussionsforum.

Auch wenn die Mails nicht selten harter Tobak sind und manchem Kollegen an die Substanz gehen, sagt sie: „Ich bin da ziemlich resistent und kann gut abschalten.“ Und geht es für die Jugendlichen wieder bergauf, sei das auch für sie ein Zugewinn. „Wenn man die Fortschritte sieht, dann ist das natürlich ein schönes Gefühl“, befindet Harter, die regelmäßig Dankesmails bekommt.

Ihre Beratung ist übrigens zeitlich begrenzt. „Wenn es einen Lösungsweg gibt, gehen die Jugendlichen ihn alleine zu Ende“, sagt die Leonbergerin. Das hat einen guten Grund: „Den Jugendlichen soll klar werden, dass sie ihr Problem ohne Hilfe in den Griff bekommen“, erklärt sie. „Nur auf diese Weise bekommen sie das Gefühl, dass sie es auch in der Zukunft alleine schaffen.“

Das suizidgefährdete Mädchen, das gemobbt wurde, hat es geschafft. „Es hat sich herausgestellt, dass sie ein sehr sozialer Mensch ist“, erzählt Harter. Auf ihr Anraten hin habe diese dann ein Praktikum bei der Caritas absolviert und will jetzt in diesem Bereich Fuß fassen. „Vom Selbstmord ist keine Rede mehr“, sagt sie erleichtert.